Ursula Panhans-Bühler: Schwere Süße und Schwerkraftsüße
Katalogtext zur Ausstellung „Thomas Rentmeister. braun“, Kölnischer Kunstverein, Köln, 02.02. – 25.03.2001; in: braun / brown, (Kat.) Kölnischer Kunstverein, Köln 2002, S. 8–48, engl. S. 50–68.
Betritt man den Ausstellungsraum des Kölnischen Kunstvereins, in dem Thomas Rentmeister im Frühling 2001 seine erste große Einzelausstellung eingerichtet hat, zugleich ein ausschnitthafter Rückblick auf 16 Jahre künstlerischer Arbeit, empfangen einen möglicherweise zwei, durchaus nicht voneinander unabhängige Sinneseindrücke: der betörende Duft – von Schokolade – und das ungehindert freie Strömen der Luft in diesem weiten Einheitsraum. Hinzu kommt ein leises Brummen, was mit den Verkehrsgeräuschen draußen verschmilzt. Fast ist es so, als zöge die rhythmische Sequenzierung der tiefen Querträger mit ihren schmalen Profilen, die das verglaste Satteldach stützen sowie die Reihe der wandhohen, auf den Boden reichenden breiten Fenstereinschnitte, die den Blick vom Inneren ins Äußere gleiten lassen – eine Lichtschleife, die außen und innen verbindet –, mehr Aufmerksamkeit auf sich als der eigentliche Anlass, weswegen man hierhergekommen ist.
Nimmt unser Blick für einen Augenblick die fokussierende Gier auf die Kunstwerke zurück, so mag wiederum zweierlei auffallen: erstens Varianten einer Farbe, die der Ausstellung ihren Namen geliehen hat, und zweitens ein keineswegs besetzerisches Verhältnis der Objekte zu dem vorgegebenen Raum, der sie beherbergt. Vor der Erfindung der grellen farbigen Reizmittel, die durch die Kunststoffproduktion ermöglicht wurden, war das Unbunte der Anstrich, den eine alltägliche Wirklichkeit sich gegeben hatte mit weißgrauen, grauen und bräunlichen Tönen. In unserer Metapher vom ‚grauen Alltag‘ hat sich davon etwas erhalten. Sich auf eine einzige Farbe, wenngleich in Varianten, in einer Ausstellung zu beschränken, noch dazu in einer Skulpturenausstellung, erscheint seltsam. Es hat eine Reihe von Ausstellungen gegeben, die die Farbe Blau, Rot oder Schwarz thematisierten. Auch Gelb, sogar Grün, selbst Violett oder das heikle Türkis wären noch denkbar – aber Braun? Nun führt das einerseits zur natürlichen Gegebenheit der Farbe, die einen Teil der von Thomas Rentmeister gewählten Stoffe auszeichnet: Schokolade ist braun, Leberflecke sind bräunlich pigmentiert, und Kaffee, selbst schwarz getrunken, ist eigentlich dunkelbraun. Andererseits lautet der Titel der Ausstellung lakonisch einfach nur „braun“. Es scheint also weniger auf die Farbe im Malersinn anzukommen, als vielmehr auf den Umstand, dass Braun etwas Alltägliches, nicht eigens Hervorgehobenes, etwas Zurücktretendes, Konnotationen von Erde oder Irdischem mit sich führt, weshalb der Künstler Varianten von Brauntönen bei vielen seiner Objekte den Vorzug gegeben hat. Von politisch-historischen Assoziationen, wie sie in unserem Land naheliegen, Braunhemden der Nazizeit und ästhetisiert wiederkehrende Braunwütigkeit der 70er Jahre, sehen wir hier einmal ab.
Der zweite Eindruck betraf das nichtbesetzerische Verhältnis, was die Objekte zum Raum einhalten. Wenig erhaben breiten sie sich teils großflächig auf dem Boden aus, fügen sich als skulpturale Linie in den Winkel zwischen Boden und Wand. Auf die Wände selbst sind sparsam eine kleinere Skulptur, ein Reliefobjekt und ein Foto verteilt, die drei Bodenskulpturen im eigentlichen Sinn erreichen allenfalls Knöchel-, Knie- und Hüfthöhe. Einzig ein großer Kubus reicht über Mannshöhe hinaus, bezieht sich aber in seiner Positionierung im Raum auf Wandflächen, Fenster und Deckenunterzüge der Architektur, so als habe er seinen pointierenden Platz in dem langgestreckten Raum gefunden. Die Farbverwandtschaft der einzelnen Objekte erzielt eine mühelose Verbindung der einzelnen Teile untereinander.
Zugleich wirken die Objekte im Raum so, als ob sie dem nuanciert geformten Gehäuse der Architektur an seiner zweckorientierten Schwachstelle aufhelfen, nämlich der ungestalteten weiten Bodenfläche, die zur Aufnahme von Ausstellungsgegenständen entweder mit Stellwänden untergliedert oder unter Umständen freigelassen wird, wenn es sich um eine Skulpturenausstellung, eine Installation oder ein Environment handelt. Thomas Rentmeister hat eine Situation geschaffen, bei der sein skulpturales Gesamtgefüge gleichsam von unten die vorhandene architektonische Struktur ergänzt. Sein Kubus, der in die Höhe eingreift, wird dabei zum Knotenpunkt zwischen unten und oben. Auch der Architekt könnte so zufrieden sein, zumal die Skulpturen auch noch die Brücke unterstützen, die er mit der Fensterfront zwischen innen und außen geschlagen hatte.
Die Ausstellung „braun“ unterminiert insofern auf nonchalante Weise jenen „white cube“, der sich in den Köpfen von Betrachtern manchmal hartnäckiger festsetzt als in architektonischen Gegebenheiten und künstlerischen Eingriffen.
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Wenden wir uns also den einzelnen Werken zu, und hier erst einmal den neuesten und aufreizendsten: den riesigen Schokoladehaufen auf dem Boden.
Für den größeren und heller bräunlichen hat Thomas Rentmeister mehr als 100 große Kübel Nuss-Nougat-Creme der Marke Nussenia auf den Boden geleert, eine zähflüssige, wie man von süßen Frühstücksorgien weiß, klebrige und fettfeucht glänzende Paste, die schwer vom Messer tropft und die Form besser hält als nachgiebigerer Honig. Wenn mit dem Verlaufen der Nussenia-Paste auf dem Butterbrot jeweils eine unsichtbare kleine Orgie verbunden ist, so gewinnt diese hier das humoristisch Verschwörerische eines großen Exzesses. Der zähe Brei wird hin- und hergewendet beim Ausleeren, verteilt sich in Schlieren und Kringeln, wirft sich teigig übereinander, bildet ein wildes barockes Relief, was kein Stukkateur des Rokoko so leicht nachahmen könnte, verschlingt sich zu einem orgiastischen Drunter und Drüber von fett glänzenden, nachgiebigen Riefelungen, eine erregte alluviale Landschaft, die mit irregulären Ausläufern, kleinen Inselchen das Weite sucht und daher den Kern des Gebildes noch weiter macht, als handelte es sich um einen nur teilweise in Aufruhr aufgetauchten, brodelnden Kontinent. Im Unterschied zu Lava erstarrt allerdings die Nusseniamasse nicht, sie bleibt sozusagen dampfend warm - ein Glück für den Bildhauer, dass es die Proportion von festen und flüssigen Anteilen der Form erlaubte, sich über einen längeren Zeitraum zu erhalten. Nur wie bei Ölfarbe blutet die Substanz mit der Zeit ein wenig aus, schmale Fettinselchen und feuchte Fettränder bildeten sich im Verlauf der Ausstellung, die der Spiritus Rector dieses Objekts jedoch gelassen in Kauf nimmt. Mit Nussenia hatte er noch keine Erfahrung, für zwei Bodenskulpturen kurz zuvor hatte Ferrero ihm das etwas sahnigere Nutella gesponsert.
Die zweite Haufenskulptur ist kleiner, das Material hat eine etwas festere Konsistenz und eine etwas dunklere Färbung – der Künstler hatte die Pâte à Tartiner, eigentlich ein Konditorwerkstoff, eigens so anfertigen lassen bei der Firma Winsenia in Winsen – die Inselgruppe besteht daher aus festeren Brocken, Erdhaufen vergleichbar, und erreicht eine geringfügig größere Höhenausdehnung als die großflächigere Bodenskulptur.
Auf die Schokoladenkontinente hatte es durchgängig zwei Reaktionen gegeben – und es gibt sie noch, wenngleich man sie inzwischen nur noch in Abbildungen zeigen kann –, die diesen Haufen eine humoristische Note verleihen. „Unverkennbar Schokolade“, ein „unmissverständlicher“ Geruch, so die Kommentare; andererseits haben die Besucher aber auch komplizenhaft gelacht. Es ist zwar ein Nusseniahaufen, aber niemand kann wohl die Assoziation an einen großen Scheißhaufen unterdrücken, die in den verneinenden Vorsilben „un-“- zum Vorschein kommt. Was da aus der Erinnerung jedes einzelnen auftaucht, verändert zwar nicht das Objekt aus Schokolade, verleiht ihm aber seine kontrapunktische Würze, die im Gelächter ihren produktiven Ausgang findet. Gleichzeitig wird die Angst vor dem Exzess in ein amüsantes Spiel überführt, und die Schokolade tut noch ein weiteres hinzu. Wäre das Objekt aus unverdünnter Ölfarbe, aus gefärbtem Silikon oder aus irgendeinem zähflüssigen Kunststoff – die verpönte Assoziation stellte sich trotzdem ein, man denke nur an die in brauner Tunke ersäuften Objektreliefs eines John Miller oder an dessen Polyestermann, der mit einem Bein in einem (...) Haufen steckt – die Schokolade ermöglicht eine liebenswürdige Verschiebung, erinnert sie doch an jene Lust, die den aggressiven Exzess bändigen helfen könnte.
Unter bildhauerischen und materialgerechten Gesichtspunkten kommt noch eine weitere Dimension hinzu. Das Material formt die Skulptur nach seinem Belieben. Das Ausleeren unterstützt mit seinen Bewegungen nur die Formmöglichkeiten, die von sich aus im Material stecken. Form, Farbe und Materie sind daher nicht voneinander getrennt, sondern eins. Die Skulptur ist nur ein anderer Zustand des Materials, als wenn es massiv in Kübeln gelagert wird, und jede neue Ausleerung würde eine neue Variante der Form erzeugen. Zudem sind Oberfläche und Tiefe hier eins; Bild als Oberfläche und Materie als ihr Träger fallen nur minimal auseinander, was sich daran zeigt, dass man auch von diesem hautlosen Objekt ein Bild der Form ablösen kann, als persönliche Erinnerung oder als technische Abbildung.
Thomas Rentmeister steuert noch eine spezifische Assoziation zu dem Mehr an Schokolade als zähflüssigem Schokoladenmeer bei. Genau so habe er sich das seltsame Ozeangehirn auf dem fremden Stern in Stanislaw Lems Roman „Solaris“ vorgestellt. Dies Ozeangehirn ist zum Objekt eines Forschungsunternehmens geworden. Dieses soll seine Denkweise entschlüsseln, um es zu beherrschen. Falls dessen Kontrolle nicht möglich ist, würde man sich von ihm so bedroht fühlen, dass man es nur noch zerstören könnte. Ein blubbernder Ozean, der keine Zeit zu kennen und merkwürdige Phänomene nach oben zu schicken scheint, als wolle er doch von sich aus mit den Astronauteneindringlingen kommunizieren. Dem Ich-Erzähler begegnet so auf geheimnisvolle Weise seine längst verstorbene Frau, die er – hin- und hergerissen – sowohl behalten als auch loswerden möchte. Beides gelingt ihm nicht: Will er sie loswerden, erweist sie sich als so verstörend unzerstörbar wie ihre nachmalige trivialere Variante aus dem „Terminator“; will er sie behalten als diejenige, die sie einmal war, erweist sich auch dies als unmöglich: Ihr Tod schon vor längerer Zeit schiebt sich dazwischen. Am Ende des Romans kommt es zu einer Begegnung zwischen dem Erzähler und dem Ozean. Melancholisch streckt der Erzähler seine Hand aus, und der Ozean wölbt sich vorsichtig vor in einer Protuberanz, umhüllt ganz sanft die Hand des Erzählers, allerdings ohne sie an irgendeiner Stelle wirklich zu berühren – es bleibt ein schmaler Saum eines Dazwischen.
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Dieser schmale Saum eines Dazwischen, aber nun als Formgrenze, kennzeichnet die Polyesterskulpturen von Thomas Rentmeister, von denen zwei in die Ausstellung „braun“ integriert wurden. Die dunkelbraune, kleinere stammt von 1994, die ockerbraune, größere von 1993. Die dritte, eine Wandskulptur, lassen wir hier erst einmal unberücksichtigt.
Die Polyesterskulpturen von Thomas Rentmeister haben bei verblüfften Betrachtern Furore gemacht. Einerseits wie Lebewesen, dann aber doch wieder keine, erinnern sie auch einfach an Gegenstände, an produzierte, wie Bauhelme etwa, oder natürliche, wie Blasen, seltsame Schnecken, schillernd zwischen organoiden, technoiden, pseudobiomorphen Wesen eines fremden Sterns. Sie entziehen sich jedenfalls einer linguistischen Vereinnahmung – „Aliens“ wird so zu einem Verlegenheitssignifikanten, der alles und nichts ‚bedeuten‘ kann, und die Welt der Comics zusätzlich zu einem Referenzraum, in dem derartige linguistisch unbotmäßige Wesen ausgebrütet werden und sich herumtreiben. Man schmunzelt, haben sie doch allen möglichen Festlegungen ein erfolgreiches Schnippchen geschlagen, und fühlt sich zugleich beunruhigt, wie von Wesen, die noch unkalkulierbare Metamorphosen als Trumpf in den anti-anthropomorphen Händen bereithalten.
Jedenfalls scheinen sie zunächst alle möglichen Paradoxe auszuspielen. – Als gewölbte Objekte appellieren sie an den Tastsinn, unterminieren diesen aber zugleich mit ihrer spiegelnden Oberfläche, für die dasselbe Verdikt wie für jeden gewöhnlichen Spiegel gilt, nämlich ein Berührungstabu, was weiter reicht als der Blickverlust aufgrund einer motorischen Sehfeldeinschränkung. – Die gekrümmten Spiegelungen bündeln den gesamten Raum, anamorphotisch verzerrt, und tauchen ihn, aufgrund der dunklen Färbung der Oberflächen, gleichsam in einen tiefen See. Man fühlt sich wie bei der Zauberin, die aus der Tiefe ihrer Kugel die Zukunft liest, indem sie sich auf die erratene Vergangenheit bezieht. – Das Gesehene verdoppelt sich: einmal in Skulptur und Spiegelung, und einmal die Spiegelung selbst, die zwischen Oberfläche und Tiefe springt. – Während der Raum in das farbige Medium der Oberfläche getaucht wird, verliert die Oberfläche in der Spiegelung zugleich ihre farbige Konsistenz. – Die optischen Formen der Spiegelung laufen der haptischen Form der Skulptur den Rang ab. In der Erinnerung jedoch setzt sich die haptische Form deutlicher fest, während die wechselnden Formen der Spiegelung des Raums verblassen. – Die Wölbungen der sphärisch perfekt modellierten Skulpturen verändern sich unendlich langsam in der Bewegung des Betrachters, während die Spiegelungen darauf mit Lichtreflexgeschwindigkeit der Oberfläche reagieren. Ersteres scheint der Suggestion eines langsamen Kriechens der Skulpturen zu entsprechen, während die Spiegelungen sich entschwert schnell hin- und her bewegen können. – Die Objekte ziehen eine materielle Projektion auf sich, während die imaginären Projektionen im Ungewissen bleiben; gleichzeitig entsteht aber doch ein verlebendigendes magisches Wechselspiel: die Skulpturen scheinen mit ihren Spiegelungen auf die Bewegung des Betrachters zu reagieren, als ließe ihr gewölbtes Spiegelungsauge diesen nicht aus dem Visier. – Wie in einer Vorform von Schwerkraft saugen sich die Skulpturen am Boden fest, könnten jedoch, wenn diese Pfropfung nicht hält, sich als Blase schließen und schwerelos davonfliegen. Andererseits ist ihre Oberfläche stets mehr oder weniger exzentrisch gewölbt. Dies suggeriert nicht nur eine unmerkliche Fortbewegung, sondern auch einen Konflikt zwischen verharrender Materie und wegdrängender Energie. Ihr exzentrischer Schwerepol bezieht sich also auf eine den Sog überschreitende Vorstellung von Schwerkraft, wie es etwa einem wassergefüllten, dehnbaren Gummischlauch oder einem alten Weinschlauch entspricht. – Und ein letztes Paradox: Die Skulpturen sind einerseits niedrig, auf jeden Fall bedeutend niedriger als der Betrachter, wenngleich häufig relativ breit in der rundplastischen Ausdehnung; andererseits aber wirken sie wie optische Magneten im Raum. Es bildet sich also eine Spannung zwischen ihrer vergleichsweise bescheidenen Lokalisation und dem gesamten Raum, was eine Folge ihrer Spiegelungsbeziehung auf diesen ist. Thomas Rentmeister übervölkert daher zu Recht keinen Raum mit diesen seltsam ausstrahlenden Sogmagneten und wählt ihre Position jeweils sehr bedachtsam.
Zwischen den Polyesterskulpturen, dem Raum und dem Betrachter entsteht eine komplexe ‚Dreiecksituation‘: Die Skulpturen, gebläht, blank geschliffen und poliert, spiegeln den Raum als ihr ‚Inneres‘, wie in einer Umstülpung. Denkt man an einen unendlichen Raum, der für uns alle zur intuitiven Erfahrung gehört, so entsteht die eigene Körpergrenze gleichsam durch eine Umstülpung, das Unendliche wird zu einem eingeschlossenen Inneren begrenzt. Dies könnte passen zu Thomas Rentmeisters Beschreibung der Formgrenze seiner Polyesterskulpturen. Es sei eine technische Notwendigkeit, dass die Skulpturen eine – ca. 5mm dicke – stoffliche Grenze haben. Am liebsten würde er diese Grenzoberfläche aus Nichts formen: „rosa Luft“, wie ein ingeniöses Kind zu einer seiner polierten Polyesterskulpturen zurecht bemerkte, der der Künstler daher ausnahmsweise einen Titel, nämlich nachträglich diesen gab. Das Kind meinte sicherlich nicht nur materialisierte Luft, oder den Lufteinschluss von Seifenblasen, obwohl gerade diese nahe an eine solche inframince (infra-dünne) Grenze, um es mit einem Terminus von Duchamp zu sagen, heranreichen, jedoch instabil sind in ihrer fragilen Seifenwasserkonsistenz, die das Kontinuum der Luft für einen flüchtigen Moment unterbricht. Das Phänomen einer Umstülpung findet sich auch im Roman „Die Schnecke am Hang“ von Arkadi und Boris Strugatzki beschrieben, Autoren einer tragikomischen Science Fiction, die Thomas Rentmeister ebenfalls sehr schätzt. Dort sind es die gefürchteten alienartigen „Leichenmenschen“, die sich nicht wie gewöhnliche Wesen im Raum umwenden, sondern in ihrer eigenen Haut umstülpen, so dass sie dem verblüfften Romanhelden plötzlich den Rücken zuwandten, bevor sie „zurückglitten“. Diese fremdartigen Wesen haben offensichtlich keine Beziehung zur Schwerkraft: „zierlich und gewandt, selbstbewusst und erlesen, gingen sie schwerelos, ohne überflüssige Schritte, rasch und unfehlbar bestimmten sie die Stelle, auf die ihr Fuß treten würde.“ – Stellen wir uns also Thomas Rentmeisters comicartige Aliens so vor, als hätten sie ihre Form erst dadurch gefunden, dass sie sich einer Transformation verdanken, nämlich einer ‚Umstülpung‘ ihres unendlichen Raums nach innen. Dadurch erhalten sie eine begrenzte Körperoberfläche, erinnern aber an diesen imaginären Vorgang mit einer Nach-innen-Stülpung des empirischen Raums als Spiegelung und artikulieren damit zugleich ihre äußere Formgrenze. Die anamorphotische Verzerrung und Beweglichkeit, eine eigentümliche Time/Space-Relation, drängt den gespiegelten Raum noch einmal in die Richtung einer schwer kontrollierbaren Ausdehnung/Bewegung. Das mag hochgradig futuristisch klingen, liegt aber bei der emotionalen Doppeldeutigkeit des Zeitpfeils von Aliens nicht so fern.
Erleichtern können wir uns diese Vorstellung durch eine Gegenüberstellung mit monochromer Malerei. Es handelt sich bei dieser häufig um das Phänomen eines Springens zwischen dem begrenzten Feld einer Oberfläche und der Erfahrung eines unendlichen Raums ohne Oberfläche, der dem Betrachter einen eigentümlich schwerelosen Schwebezustand, eine Suspension der Schwerkraft zumutet oder erlaubt. Wenn Thomas Rentmeister auf flapsig humoristische Art die Entstehung seiner Polyesterskulpturen damit erläutert, dass es ihm darum gegangen sei, „monochrome Malerei aufzublasen, um sie ad absurdum zu führen“, so haben wir es hier mit einer durchaus zutreffenden Beschreibung zu tun, die im Übrigen das High der monochromen Malerei im Comic Low seiner Aliens bricht. Dieses Spiel mit dem Erhabenen der monochromen Malerei zieht es allerdings nicht ins Lächerliche, sondern eher ins Komisch-Amüsante. Monochrom Gewölbtes springt ins Taktile, zieht dadurch das Erhabene ins Humoristische: etwas Gewölbtes gesteht seine Begrenztheit ein, fordert unseren Umgreifungssinn heraus, wir stürzen uns nicht mehr mit Pathos in die heilige Fläche. Aliens sind Körper, nicht tendenziell grenzenlose Räume. Sie sind zwar Abkömmlinge des grenzenlosen Raums, aber sie haben mit uns schon die Umgreifungsform gemeinsam. – Um es topologisch auszudrücken: irgendwann hat jeder einmal – notgedrungen – verkleinernd nachgegeben, um in einer Transformation jenen Zustand zu akzeptieren, aus dem die monochrome Malerei in der Imagination, und allenfalls auf Zeit, wieder hinauszuführen verspricht.
Thomas Rentmeisters Comic Aliens ohne Titel führen einen Zwischenzustand vor, blähen sich eher optimistisch als angeberisch auf, geben dem Tastsinn, zumindest im Umgreifen durch das Auge eine Chance und klammern sich mit Hohlsog – man könnte an Duchamps Formel des „Löchergewichts“ denken – an ihren irdischen Oberflächenwiderstand, wobei der Sog im Festsaugen eine Vorform von Schwerkraft, prosaisch gesagt: des irdischen Zu-Boden-Fallens artikuliert.
Der Betrachter hat es sowohl mit dem Raum zu tun, in dem er selbst sich befindet, seinem Medium, als auch der spannungsvollen Gegenüberstellung mit dem seltsamen Objekt, der Skulptur, die den gespiegelten Raum für ihre – taktile – Abwehr einsetzt; noli me tangere: als fürchte sie nicht so sehr, durch Berührung verunreinigt zu werden, als vielmehr zu zerplatzen wie eine fragile Seifenblase, bevor noch ein Finger sich in sie bohren kann. Der empirische Raum umhüllt sowohl den Betrachter wie die Skulptur, die sich in ihm befindet. Die Skulptur jedoch zieht ihrerseits noch einmal diesen Raum samt Betrachter auf ihre Oberfläche als ein imaginäres Inneres, und der gemeinsame Raum wird so als Spiegelung zum speziellen Abwehrraum der Skulptur.
Der Betrachter erlebt ein paradoxes Zwei-in-eins: die taktil fühlbare Wölbung der Skulptur, ihre spezifische skulpturale Form und die optische Referenz des Raums, in dem er selbst sich befindet, vergegenwärtigt in der Spiegelung, die ihn als Fleck im Bild zeigt. Sein eigenes Bild wird optisch stärker in den Raum um ihn herum eingebettet als bei einem normalen Spiegel, d.h. er wird nicht so sehr zur – tendenziell narzisstischen – Möglichkeit purer Selbstreferenz verführt.
Es entsteht also eine wechselseitige Korrespondenz. So wie die Skulptur zwei-in-eins wird, taktile Oberfläche und optisches Angebot der Distanz, so wird auch der Betrachter zwei-in-eins: reflektiertes Bild, aber nicht mehr getrennt vom Raum, in dem er sich tatsächlich befindet. Dem Betrachter als zurückgespiegeltem Fleck im Bild der Welt entspricht die Skulptur, die ihrerseits ein ‚Materiefleck‘ im Raum und im Bild des Betrachters ist. Die isolationistische Beziehung Skulptur-Betrachter, mit all ihren exklusiven projektiven Folgen, wird leise auf etwas Realeres, die gegebene Situation an diesem spezifischen Ort umdirigiert.
Was in der minimalistischen Skulptur als nicht-referentiell, als direkte Gegenwart eines spezifischen Objekts, der Gegenwart des – nicht aufs Glatteis einer (narzisstischen) Selbstprojektion geführten – Betrachters gegenübergestellt wird, ist hier gleichsam auf beiden Seiten verdoppelt zu einer komplexeren Beziehung, eine sublim optische ‚Unterredung‘, die die wechselseitige Ausnahmesituation einer Stummheit in eine ‚beredte‘ Situation überführt. Auch wenn sich dieses Wechselspiel auflädt mit dem nicht abzuschüttelnden Zweifel, sind es ‚nur‘ Objekte, oder mimen sie zumindest nicht doch etwas Belebtes, so gilt zumindest, dass etwas belebt Fremdes beunruhigend fremder wirkt als etwas unbelebt Fremdes. Aliens leben überdies von der hin- und hergeschobenen Frage, kommen sie aus einem tatsächlich sternenfern fremden Raum, oder nicht doch aus unserem ureigenen sternenfremd fernen Raum. Die Non-toccare-Distanz rettet jedenfalls hier nicht einen Fetisch, sondern erhält eine Spannung der Differenz. Was einem glänzend designten Auto wohl nicht passieren würde; es wird besetzt, und sei’s nur virtuell, um berauscht davon zu preschen.
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Thomas Rentmeister hat im Verlauf der 80er Jahre angefangen, sich mit dem amerikanischen Minimalismus auseinanderzusetzen, das Verhältnis von high & low spielt dabei eine große Rolle. Wenn der Minimalismus eine Reaktion auf die Diffusion des Konkreten durch Werbung und Fernsehen war, auf die es gleichzeitig eine low Antwort in der Pop Art gab, während der Minimalismus eher als eine high Antwort verstanden wurde, so kratzt Thomas Rentmeister durch ‚unreinen‘ Minimalismus an letzterem. Allerdings ist es weniger eine despektierliche Verunglimpfung, sondern eher ein ‚unter den Minimalismus gehen‘, wie sich anhand seiner späteren Arbeiten sehen lässt. Er verfolgt die Spur zurück, bevor sich das etablieren kann, was im Minimalismus, wenn man so verallgemeinernd sprechen kann, thematisch wird: Objektivität als Beruhigung von Stücken der Welt zu nichtsubjektiven, neutralen, um uns unbekümmerten Gegebenheiten, als Befreiung von einer magisch emotionalen Auf-alles-Bezogenheit.
Sieht man Thomas Rentmeisters Werk chronologisch durch, wird die Schlüsselrolle deutlich, die die Auseinandersetzung mit dem Minimalismus in seinem Werk einnimmt. Herkommend von zunächst poetisch humoristischen, phantasievoll aleatorischen, musikalisch skulpturalen Einfällen, führten sie ins Reich der Objektkunst oder der Objektcollage. Fast immer mit Alltagsgegenständen bewerkstelligt wie z.B. Küchengeräten, Werkzeug, Gerätschaften und Gebrauchsobjekten aller Art, operieren sie mit vielfältigen Anspielungen auf bekannte Werke der Moderne.
Thematisch sind schon drei Momente: der Atem, der den Objekten eine zärtlich poetische, musikalische Schwebe verleiht, der Bezug zum Alltag, der humoristisch Dinge an Stellen integriert, wo man sie am wenigsten erwartet, und die Spannung zwischen Schweben und Schwerkraft, von einer enorm intuitiven bildhauerischen Begabung ganz abgesehen. Beispiele dafür wären etwa ein Objekt von 1983, etwa 160 cm hoch, eine krummgebogene Gardinenstange als langer Saitenbogen an einem Lampenständer, der in einer Kurve wieder ‚geerdet‘ wird, heruntergezogen durch an ihn ‚geklammerte‘ kleine Alltagsobjekte. Oder ein ganz kleines Objekt aus demselben Jahr, aus Gips, Draht, Plastikfolie, Zeitungspapier, Streichhölzern und Farbe, ein abstrakter Engel, nicht nur beflügelt, sondern zugleich mit schweren flügelartigen Erdflossen.
Bezugspunkte seiner Entwicklung sind etwa Eva Hesse – eine quadratische Leinwand von 1985 mit Fliegen in seriellen Ölflecken, oder auch ein schmales Objekt von 1985, schwere Eier in einem zarten transparenten Plastikstrumpf herniederhängend – und ein ins Musikalisch-Poetische gewendeter Suprematismus à la Tatlin – eine Arbeit von 1986, um und auf einer Leiter Objekte, die eine lyra-artige Bogenlinie als Verbindung schlagen, und aus demselben Jahr ein fröhlich unbekümmerter neodadaistischer Suprematismus mit Alltagsgerätschaften, die um eine standfeste Leiter herum einen fragil balancierten Turm errichten.
Der Minimalismus – beispielsweise eines Donald Judd – hingegen erlaubte Thomas Rentmeister einen Übergang zu einer neuen formalen Eindeutigkeit. Aber von Anfang an sabotierte er mit skeptischem Humor dessen formale Strenge mit ‚unreinen‘ Einfällen. Ventilatoren, Belüftungselemente, überstehende Randecken, Lkw-Planen, chromatisch gefüllte Kaffeetassen als Readymade-Minimalismus etc. brechen die Absolutheit der minimalistischen Objekte. Auch die Positionierung spielt dabei eine Rolle, in die Ecke geschoben oder unauffällig am Wandrand behaupten sie keine kühne Selbstherrlichkeit des Objekts im Raum. So beispielsweise ein Bodenobjekt von 1990 aus Polyethylen, das Wandobjekte des frühen Donald Judd zum bescheideneren Wand/Boden-Objekt umzufunktionieren scheint. Ein reines Wandobjekt hingegen, ein gelb lackiertes Holzobjekt von 1988, ein streng oblonger Quader, eckt mit seinen merkwürdigen schwarzen ‚Verpackungskanten‘ aus Kunststoff buchstäblich am Purismus des Minimalismus an.
Drei der Objekte aus dieser post-minimalistischen Phase von Thomas Rentmeister sind in die Ausstellung „braun“ aufgenommen, zwei Wiederaufnahmen und eine Art update. Das älteste unter ihnen, die Kantinen-Stapeltassen von 1985, gefüllt mit Kaffee und Kondensmilch, wirkt fast so, als wolle es gleich drei entscheidende Prinzipien des Minimalismus in clownesker Travestie auf den Teppich der Alltäglichkeit zerren: Serialität, industriell vorgefertigte Formen und mathematische limes-gegen-unendlich Sequenzierungen. Der Clown triumphiert allerdings mit einer gewitzten Raum/Zeit-Verkehrung. Aus dem Vorgang, in eine mit Kaffee gefüllte Tasse solange Milch zu gießen, bis der Kaffee die gewünschte Helligkeit erreicht hat, wird hier der Prozess, in verschiedene Kaffeetassen solange Milch zu gießen, bis der Kaffee die ‚gewünschte‘ Helligkeit hat. Ob die Helligkeit allerdings dann noch einem Wunsch sich verdankt, ist sehr die Frage, wenn aus einem gebrauchsorientierten Handeln ein abstrakt formalistisches wird, was sich notfalls in die Formel übersetzen ließe: aus einer – wunschorientierten – Raumpriorität gegenüber der Zeit wird eine, im Übrigen hochmoderne – detachierte – Zeitpriorität gegenüber dem Raum, aus einem Übereinander ein serielles Nacheinander – jedenfalls ein hochkomisches minimalistisches Verfahren. Die so entstandene Bodenskulpturlinie schmiegt sich, wie schon in einer früheren Präsentation, zurückhaltend in den Gebäudewinkel, an den Rand, kaum losgelöst vom Ambiente.
Bei der zweiten Skulptur handelt es sich um den Kubus aus Container-Stahlblech, ohne Titel, 1988, braun lackiert, Maße 215 x 214 x 214 cm. Man kann uns hundertmal sagen, dass eine Kiste innen leer ist, nichts darinnen; sobald sie geschlossen auftritt, wittern wir in ihr ein Geheimnis. Und fast wie bei einem Geheimnisverrat gibt hier die Kiste mit dem Ventilator ihr triviales Geheimnis Luft preis. Es ist so zwar etwas drinnen, aber nicht das, was wir vielleicht hineingeheimnist hätten, nämlich Luft, der das Summen des Ventilators eine gleichgültige Stimme verleiht. Thomas Rentmeister hatte zwar bei dem geschlossenen stählernen Container an zweierlei gedacht. Einerseits sah er ihn als Modell für eine, irgendwann möglicherweise fällige, Skulptur im öffentlichen Raum, die die Verschleierung dessen, was hinter den geschlossenen Wänden von Produktionscontainern passiert, ad absurdum führt, nämlich Geldmachen. Er hat daher andererseits immer an Onkel Dagoberts Geldschrank gedacht, in dem dieser hockt, um von oben aus einem kleinen Fenster – dem Sitz des Ventilators an der Skulptur – auf die Panzerknackerbande zu schießen, die ihm ans pekuniär versteifte Leder will. Im Rahmen der dunklen Seriosität der Skulptur allerdings könnte man auch fragen, „Geld oder Luft“, um die Forderung „Geld oder Blut“ zu paraphrasieren, die Fischli & Weiss in den 80er Jahren einem Ganovenpärchen aus Rohton auf den Königsweg zum erfolgreichen Überfall mitgegeben hatten. Wenn man also Luft erhält, wo man Geld erwartet, hat man zumindest einen lebensrettenden Tausch gemacht.
Die Luft verfolgt uns, zumindest wenn wir nun zum dritten Objekt der Minimalismuszeit kommen, der Wiederaufnahme der Lkw-Planenobjekte mit einer Arbeit aus dem Jahre 2001. Thomas Rentmeister hatte 1990 auch einige in grellen Farben gemacht, diese aber nach einigen Monaten zerstört und nur drei in erdig braunen oder cremefarbenen Tönen erhalten. Das Objekt in der Ausstellung „braun“ hat im Licht zumindest einen leicht rötlichen Anflug, in den Ausmaßen fügt es sich auf den Wandabschnitt zwischen zwei der Großfenster. Die fabrikneue Plane, direkt von der Rolle, wird „stramm wie ein Trommelfell“ - so der Künstler - um den Holzrahmen gespannt. Optisch könnte man es für Malerei halten, was es der Sache nach nicht ist. Man könnte an die Stoffbilder seinerzeit von Blinky Palermo denken, monochrome Stoffe, die in zwei Stücken zu einem horizontal geteilten Bild zusammengenäht waren. Hier ist es ein einziger, ein mit PVC beschichtetes Polyestergewebe, dessen Oberfläche matt glänzend alle Spiegelungen schemenhaft auflöst, so auch die des Betrachters. Ein echtes Trommelfell, meist aus Tierhaut, ist zum Beklopfen und Beschlagen gemacht, um Töne zu erzeugen, indem es seinen Hohlraumträger als Resonanzkörper benutzt. Laut Thomas Rentmeister machen seine Lkw-Planenbilder auch Töne, wenn man vorsichtig mit der Fingerspitze auf sie tippt – donnng. Die belustigende Vorstellung, die zu den Polyesterskulpturen führte, „monochrome Malerei aufzublasen“, lag durchaus nahe: „Stramm wie ein Trommelfell“ macht daraus schon einen Körper, wenngleich eine ‚rechteckige Trommel‘. Die – taktile – Oberfläche scheint wichtiger als die – materialbedingte – Monochromie, wenngleich wohl niemand die Lkw-Planenobjekte so einfach berühren würde.
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Für den Übergang aus den post-minimalistischen Objekten zu den Polyesterskulpturen bieten sich allerdings noch ein paar weitere Werke in Thomas Rentmeisters Oeuvre an. Sie seien kurz erwähnt, weil sich von ihnen aus auch noch ein weiterer Übergang zu den neueren Polyester-Wandobjekten erkennen lässt, wovon in der Ausstellung „braun“ eines vertreten ist.
Selbstverständlich muss man hier Thomas Rentmeisters erste Arbeit in Polyester erwähnen, eine zweiteilige Skulptur in graubraunem Beigeton, die er 1991 in der Galerie Otto Schweins in Köln zeigte, damals noch ein kleiner Ausstellungsraum in der Wormser Straße. Eine Trogform als lagerndes Trapez mit oval wirkenden Schmalseiten kombinierte er mit einem Kegel in der Form einer Normalparabel. Die Trapezform war am oberen Ende ganz leicht nach innen gewölbt, vergleichbar der Delle des Zelluloidverschlusses bei einem Einmachglas, die sich aufgrund des Vakuums bildet. In dieser zweiteiligen Skulptur, die der Künstler selbst als Schlüsselwerk für seine Entwicklung empfindet, scheint sich das Pneuma schon anzukündigen, das dann den ‚eigentlichen‘ Polyesterskulpturen zur Genese verholfen hat. – Interessant ist in diesem Zusammenhang aber auch der 3 min. Super8-Film, den Thomas Rentmeister 1989 gedreht hat mit zwei Piccoloflaschen und sich als Darstellern. Die Piccoloflaschen erscheinen anfangs, wie der Name sagt, angemessen miniaturhaft. Bis der Künstler dazwischen tritt und diese sich als fast mannshoch aufgeblasene Attrappen herausstellen, an deren Rückseite er hantiert, um wieder aus dem Bild zu verschwinden. Hatte sich vorher der Künstler gebückt, müssen nun die Flaschen ein Häkchen machen. Slow motion sinken die Hälse nach vorn, gibt der Flaschenkörper nach und sie sacken in sich zusammen. Eine humoristische Etude mit nicht nur Werbe-Konnotationen, bringt sie wieder high & low durcheinander; nochmal, nochmal, nochmal, wünscht sich der Betrachter bei dieser Umkehrung der Aufblähung – der Künstler hatte beim Bücken die Stöpsel gezogen – und tatsächlich erlaubte die VHS-Kopie eine schier unendliche Wiederholung auf dem Magnetband.
Eine zweite urkomische Arbeit, diesmal ein kleines Objekt von 1990, treibt ein Doppelspiel mit Duft und Formveränderung, ein Plexiglassturz mit Socken. Die irregulär gewölbte Blase des Plexiglases wirkt, als wäre ihre sphärische Perfektion unter Hitzeeinfluss zerbeult worden. Die Socken, unter dem Glassturz wie unter einer Käseglocke, können in der Vorstellung des Betrachters jedenfalls nicht mehr frisch gewaschen gewesen sein. Die Probe, den Plexiglassturz zu lüften, hemmt nicht allein das Tabu ‚Vorsicht Kunstwerk‘.
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Die dunkelbraune Wandskulptur aus poliertem Polyester, ohne Titel, 2001, würde wahrscheinlich als einfach gewölbte „Schnecke am Hang“ von der Wand fallen. Tatsächlich sind vielteilig irreguläre, eher weichkantige Hebungen, Senkungen und Wendungen Eigentümlichkeiten der neueren Wandskulpturen von Thomas Rentmeister. Unter den Bodenskulpturen gibt es zwar auch zwei vielteilige, aber dann als Agglomeration von gleichförmigen Blasen oder unregelmäßigen Ein- und Ausdellungen. Die in der Ausstellung „braun“ gezeigte kleine Wandskulptur wirkt durch die tiefdunkle Färbung, trotz unruhiger Oberflächenformen für einen fernsichtigen Blick wie in sich versunken, zurückgezogen.
Betrachtet man sie jedoch aus der Nähe mit bewegtem Blickpunkt, beginnt sie unter den unkontrolliert anamorphotischen, vielfältig zerteilten Spiegelungen, die chaotisch anschwellen, sich verformen und wieder verschwinden, gleichsam zu ‚leben‘, wie unter einer zärtlichen Berührung. Das bewegte Spiel der Spiegelungen scheint die Oberflächenform der Skulptur anzustecken, als rege sich ihre Form unter dieser Blickberührung. Tritt man wieder zurück, verschwindet das phantasmatische Leben, und die Skulptur fällt in ihre vorige dunkle Ruhe zurück. Auf magische Weise erscheint so der Zustand der Skulptur wie eine vorübergehende Pause, die sich in der Interaktion mit dem Betrachter sofort löst und in eine weit größere, aufgeregtere und geschwindere, tänzerische und zugleich heterogene Bewegung übergeht. Spiegelungen können sich, bei gegeneinander geneigten Oberflächen, überlagern zu einem eigenen Wechselspiel. Fast so, wie wenn der somatische Körper auch ohne Beteiligung des Wachbewusstseins der erotischen Erregung folgt, ist die Materie nur noch relativ träger im Verhältnis zum Brio einer Lust, die surfend die Oberflächen durchzieht. Der Formwechsel des Erotischen löst die Bindung an ein begleitendes Bewusstsein. – Und da die magisch-optische, sowie plastisch-imaginäre Verlebendigung der Skulptur durch den Betrachter an die Grenze eines Tabus rührt, lächelt man danach vielleicht verlegen, als fühle man sich doch ein wenig ertappt. Unschuld aber hat nichts zu suchen in der Sphäre der Lust.
An der entfernt gegenüberliegenden Schmalwand des Ausstellungsraums hängt ein großes Foto, ohne Titel, 2001, hinter Plexiglas. Thomas Rentmeister hat eine Aufnahme eines Leberflecks machen lassen, den er seit seiner Geburt am linken Schienbein hat. Es war nicht einfach, für die Nahaufnahme bei geringer Tiefenschärfe ein präzises, derartig vergrößerbares Ektachrom anzufertigen. Jetzt sitzt der dunkle Fleck eines regulären Ovals inmitten der Bildoberfläche, als handle es sich um einen Sonderprint auf dem Schweißtuch der Veronika, eine Assoziation, die in Köln natürlich naheliegt. Die Großaufnahme bringt die facettenartig gebrochenen Schuppen der Hautoberfläche zum Vorschein, dieses allerleiseste optische Spiegelrieselgeräusch, dem die Haut ihren Schimmer verdankt und dem nicht nur Maler so sehr hinterher sind: eine unauffällige Erotisierung, durch den dunklen Klang des Leberflecks grundiert.
Moderne Methoden der Identitätsfeststellung sind nicht mehr so stofflich orientiert. Der Vermerk in älteren Pässen, „besondere Kennzeichen“, fehlt in neueren Ausweisen. Die „Narbe des Odysseus“ ist nicht mehr das Signum, an dem einst eine Penelope ihren heimkehrenden, ansonsten vom Krieg zerrauften Gatten erkannte. Vielleicht ist es ja auch nur ein purer Zufall, dass die Größe des Fotos – 200 x 140 cm – den Normalmaßen eines Doppelbetts entspricht. Aber die irisierend lichtspiegelnde Haut der Vergrößerung lässt einen Bogen schlagen zur Polyesterskulptur auf der entfernt gegenüberliegenden Wand. Was die menschliche Haut optisch attraktiv macht, bevor sie berührt wird, ist in der rätselhaften Wandskulptur aus poliertem Polyester zur Seltsamkeit des „Anastomos“ eines Rodolfo Wilcock übersteigert, der über und über mit Spiegeln bedeckt, jedoch unberührbar war. Und während ein menschlicher Körper auf die Berührung seiner Oberfläche mit körperlicher Regung und Erregung reagiert, antwortet der Alien der Wandskulptur auf die optische Berührung auf seine eigene, übersteigert erregte, optische Spiegelungsweise.
Vielleicht also sind die Aliens von Thomas Rentmeister gar nicht so technoid, wie sie zunächst scheinen mögen – und zugleich gar nicht so biomorph, wie man sie gerne haben möchte. Brancusis biomorphe Plastiken zogen auf die Grenze ihrer intimen Versunkenheit die erinnernde Vorstellung eines Unendlichkeitsraums. Arps Plastiken aus perfekt gekurvtem Gips orientierten sich gleichfalls an einer, wenngleich ideal stilisierten, anthropomorphen Form. Duchamps Spekulationen über ein „Objekt aus Schokolade“, das seine gegossene Form einer Gussform verdankte, die einem ganz anderen Raum angehörte als unsere gewöhnlichen Gussformen, die ein umgekehrtes Spiegelbild der gegossenen Form sind, kommen dem schon sehr viel näher, was Thomas Rentmeisters Skulpturen suchen. Duchamp formulierte es so, dass die unsichtbare Gussform von Zeit zu Zeit als „apparition“, als Erscheinung auf der Oberfläche des „objet en chocolat pax.“ sich zeige – was kann das anderes sein als jene auratische Sphäre, die sich im Zustand erotischer Erregung zeigt und mehr als physisches Sich-Abarbeiten verspricht.
Die Skulpturen von Thomas Rentmeister setzen sich einer Erfahrung auf die Spur, die mit den üblichen körperbildlichen Anspielungen nicht zu fassen sind. Es sind die unsichtbaren Transformationen, die aus einem Alien allmählich eine gewöhnliche, biomorphe ‚Gussform‘ machen, ein down-by-earth Subjekt, dem die Schwerkraft nicht im Wege steht, wenn es sich von Zeit zu Zeit lustvoll von ihr suspendiert. Allerdings haben seine Aliens einen, wie schon gesagt, Zeitpfeil in zwei Richtungen. Ob sich Betrachter für beide entscheiden oder sie voneinander trennen wollen, bleibt ihnen überlassen.
Die Schokoladehaufen jedenfalls führen etwas vor, was man möglicherweise leicht übersieht. Zäh fließt ihr Material, aus Eimern gegossen, auseinander. Deutlicher kann die Schwere, die selbst an der Süße klebt, wohl nicht vorgeführt werden. An dieser Stelle kann auch die nicht zu unterdrückende Assoziation von Ausscheidungen produktiv werden. Deren Skandal ist ja, dass sie uns an unsere eigene Vergänglichkeit erinnern, und so erbringen wir gerne täglich ein partielles irdisches Abschlagsopfer, bevor es uns selber radikal und unausweichlich vollständig erwischt. Das Lachen angesichts der Schokohaufen befreit uns ein Stückweit von der Angst.
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Coda: die Milchtasse. Udo Kittelmann, Direktor des Kölnischen Kunstvereins, soll nicht nur den Einfall gehabt haben, in der Ausstellung Objekte der von Thomas Rentmeister häufig verwendeten Farbe Braun zu versammeln, sondern auch den Vorschlag gemacht haben, ein nicht-braunes Objekt in die Ausstellung aufzunehmen. Als eine Art Buffo-Element, so der Künstler, entstand so die weiße Milchtasse – ein „farbiger Ausreißer“, wie ein Kritiker kommentierte – und zerstreut zugleich den Verdacht jeglicher Monomanie. Ebenfalls ein Objekt aus poliertem Polyester und mit etwa 25 cm nicht ganz kniehoch, gehört sie doch nicht in den Formproblemkreis der anderen Polyesterskulpturen. Das bildhauerische Objekt bleibt eine Tasse, mit schneeweißer Milch gefüllt, schimmernd unterm Tageslicht, man bläst ein wenig, um das Milchmeer nicht doch noch mit einer Polyesteroberfläche zu verwechseln. Die Tasse selbst hat leicht biomorph zu einer Raute verzogene Formen, wenn man den Blickwinkel gegenüber dem Henkel wählt, als käme sie einem mit ihrem Inhalt ein wenig entgegen, auch wenn sich dabei ihre Form verzerrt. Aber rund wäre auch weicher, nachgiebiger; leichte Ecken wirken knackiger, widerständiger. – Deshalb noch eine alte Geschichte über die Differenz von Schlürfen und Kauen: Ein Kind löffelt aus einer Tasse Suppe. Plötzlich kommt eine Schlange angekrochen, richtet sich langsam auf und beginnt, über den Rand geneigt, Suppe zu schlürfen. Da schlägt das Kind der Schlange auf den Kopf und sagt: „Ding, iss auch Brocken!“
© Ursula Panhans-Bühler (2002)