Thomas Rentmeister

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Peter Friese: PUTPUTPUT – setzenstellenlegen. Gedanken zu einer Raumarbeit von Thomas Rentmeister

Katalogtext zur Ausstellung „Thomas Rentmeister. PUTPUTPUT setzenstellenlegen“, Kunstverein Ruhr, Essen, 16.06. – 08.09.2019; in: Thomas Rentmeister (PUTPUTPUT setzenstellenlegen), (Kat.) Kunstverein Ruhr, Essen 2020, S. 5–19, engl. S. 23–38.

Das plastische Werk des in Berlin lebenden und in Braunschweig lehrenden Thomas Rentmeister zeichnet sich durch seinen unorthodoxen, höchst sensiblen Einsatz verschiedener Alltagsmaterialien aus. Bekannt wurde er durch die sinnstiftende Verwendung von Penaten Creme, Nutella, Zucker und Kartoffelchips, sowie durch den überzeugenden skulpturalen Einsatz ausgedienter weißer Kühlschränke. Immer entsteht dabei eine neue überraschende Sinndimension, welche auf den vertrauten Gegenständen und Materialien aufbaut und uns doch einen bisher verborgenen Zugang zur Welt eröffnet. Ausgehend von einer monumentalen Arbeit, die 2019 für den Kunstverein Ruhr entstanden ist, soll der künstlerischen Verwendung dieser eigenwilligen Materialien und der besonderen ästhetischen Erfahrung, die das plastische Werk dieses Künstlers insgesamt ermöglicht und auszeichnet, nachgegangen werden.

Materialeigenschaften. Bei seiner raumgreifenden Arbeit im Kunstverein Ruhr entschied Rentmeister sich für sogenanntes Rippenstreckmetall. Dieses in der Baubranche übliche Material, findet gewöhnlich als Unterlage für Wandputz Verwendung. Für Rentmeister aber sind es bestimmte Eigenschaften des Streckmetalls, die es interessant für den künstlerischen Einsatz machen. Es glänzt silbrig, lässt sich dehnen, in alle Richtungen biegen und formen und entwickelt eine raumgreifende, zugleich transparent-luftige, bisweilen filigrane Präsenz. Die scharfkantigen, jeweils 250 x 60 cm messenden Gitterbahnen erlauben ihm überraschender Weise ungeahnte Formprozesse. Rentmeister biegt, knetet, knickt und dehnt das Material auf eine in der Baubranche sicher nicht unbedingt übliche und dort auch nicht notwendige Art. Er verbindet die in Form gebrachten Gitterbahnen miteinander zu einem immer größer werdenden Gebilde. Die stetig wachsende Skulptur definiert schließlich den Ausstellungraum vollkommen neu. Wir haben es am Ende mit einer den gesamten Raum dominierenden, im doppelten Sinne „vielschichtigen“ Installation zu tun, die verschiedenste Einblicke in ihr Inneres und spezielle, damit verbundene ästhetische Erfahrungen erlaubt.

Werkbegriff. Der eigenwillige Titel der Arbeit mag beim ersten Lesen Verwunderung oder auch ein Schmunzeln auszulösen, doch trifft er zugleich das Selbstverständnis und den Werkbegriff des Künstlers. Das englische Tätigkeitswort to put bedeutet gleichzeitig Setzen, Stellen und Legen. Auf diese Weise wird die dreifach gestufte Bedeutung des kurzen Verbs innerhalb der Ausstellung zum künstlerischen Programm. Das, was Rentmeister für den Essener Raum realisiert hat, gleicht in der Tat einem präzisen Positionieren, Stellen und Auslegen von Material. Eine solche Vorgehensweise unterscheidet sich prinzipiell von einem traditionellen „Gestaltungsprozess“, bei dem aus einem Material oder Werkstoff eine vorher festgelegte und hinterher wiedererkennbare Form herausgearbeitet wird. Rentmeisters Haltung ist so gesehen der Grundhaltung der Minimal Art ähnlich, ging es dieser Kunstrichtung doch um eine zunächst von jeder Bedeutung und Repräsentationspflicht befreite künstlerische Setzung und die Verwendung von in der Regel industriell vorgefertigten, also bereits vorhandenen Materialien, die sich selbst thematisieren.

Minimal? Doch in mancherlei Hinsicht wiederum unterscheidet sich Rentmeisters Vorgehensweise und die dahinterstehende Haltung von derjenigen der Künstler der Minimal Art. Seine Methode besteht im Falle der Essener Arbeit einerseits darin, die Bahnen des Gitterwerks nicht mit der Blechschere „gestalterisch“ zu zerschneiden, sondern in ihrer Gesamtlänge zu belassen. Doch andererseits bearbeitet und verformt er dieses Material mit seinen durch Lederhandschuhe geschützten Händen. Er bringt die vorgefertigten Grundelemente in Formen, die sich erst während des Arbeitsprozesses, also aus ihm heraus ergeben, um sie schließlich sinnvoll und sinnstiftend miteinander zu verbinden. Durch Umlegen, Biegen und Dehnen der in ihrer Gänze verwendeten Gitternetze entsteht nach und nach in einem neun Tage dauernden kontinuierlichen offenen Prozess eine riesige Raumskulptur. Man kann in ihrem Inneren ablesen, dass sich zahlreiche Abteilungen, Zellen, gegenläufige Gänge mit Richtungswechseln herausbilden. Sie zeugen von der manuellen, durchaus „gestalterischen“ Arbeit des Künstlers und addieren sich am Ende zu einem plastischen Kontinuum, welches die linke Hälfte des Ausstellungsraumes fast ganz ausfüllt. Durch diese ablesbaren Spuren menschlicher Arbeit am Material und die damit verbundenen Unregelmäßigkeiten unterscheidet sich Rentmeisters Haltung von derjenigen der Pioniere der Minimal Art. Auch diese verwendeten industriell vorgefertigte Materialien, doch beließen sie sie in ihrem anonym maschinell produzierten und bisweilen seriellen Charakter. Donald Judd, Dan Flavin, Robert Morris und Carl Andre (um die bekanntesten Vertreter dieser Kunstrichtung zu nennen), legten großen Wert darauf, dass ihre Arbeiten keine persönliche Handschrift und keine Bearbeitungsspuren aufweisen, die mit „Ausdruckwerten“ oder „Inhalten“ gleichgesetzt werden könnten. Rentmeisters Plastiken hingegen enthalten gestalterische Eingriffe, Verformungen, Verfremdungen und immer wieder eine für ihn typische hybride Kombinatorik auf, die die Reinheitsgebote der Minimal Art permanent und absichtsvoll, bisweilen auch humorvoll unterlaufen. Und das lässt sich nicht nur an der Essener Installation, sondern auch an anderen Werken festmachen.

Arme Kunst? Neben den Gemeinsamkeiten und Unterschieden zur Minimal Art lassen sich im Werk von Thomas Rentmeister auch Bezüge zu einer anderen inzwischen ebenfalls zur Kunstgeschichte gehörenden europäischen Kunstrichtung herstellen. Gemeint ist die Arte Povera, deren Hauptvertreter im Italien der 1960er Jahre begannen Materialien wie Holz, Steine, Stroh, Glas, Erde, Feuer, aber auch Möbelstücke, Musikinstrumente, bisweilen lebende Tiere und Pflanzen zu überraschend neuen Werken zusammenzustellen, in denen es nicht allein um eine aus dem Alltag kommende „arme Materialästhetik“ sondern immer um poetische Aufladungen, Literarisierungen und tief in die Kulturgeschichte hineinreichende Verbindungen geht. Wenn Mario Merz sich durch die Agrarkultur Norditaliens und die Zahlenreihe des Fibonacci inspirieren lässt, in Jannis Kounellis’ Werk deutliche Verbindungen zur Kultur der Antike erkennbar werden und bei Giuseppe Penone Natur und Kultur in ein überaus anschauliches und sinnstiftendes Verhältnis geraten, wird trotz ihrer unterschiedlichen Ansätze eine Gemeinsamkeit klar: Es geht diesen Künstlern immer um Inhalte, um Bezüge zu Kunst, Literatur, Philosophie und damit um einen typisch europäischen kultur- und geistesgeschichtlichen Tiefgang, den die amerikanisch geprägte Minimal Art von Anfang an zu vermeiden versucht.

Wenn Haltungen zur Form gelangen. Sowohl die Minimal Art, als auch die Arte Povera weisen ungeachtet ihrer unterschiedlichen Intentionen einen gemeinsamen Wesenszug auf: Betrachterinnen und Betrachter werden von diesen Werken dazu stimuliert, Bezüge zu entdecken, Querverbindungen herzustellen und neben dem Seh- auch das Denkvermögen zu aktivieren. Also gegenüber dem Werk eine Position einzunehmen, die sich nicht nur auf „interesseloses Wohlgefallen“ beschränkt, sondern sich im Idealfall selbst als Bestandteil des Werkes und der mit ihm verbundenen ästhetischen Erfahrungen begreift. In der Tat hatten mehrere internationale Positionen der Kunst in den 1960er Jahren, zu denen man durchaus auch Fluxus, Konzeptkunst und das OEuvre von Joseph Beuys zählen darf, einen solchen radikalen partizipativen Ansatz. Diese Kunstrichtungen wollen die Betrachtenden selbst zu Bestandteilen der Werke machen. Und im Zuge dessen entstehen Werke, die weder etwas im mimetischen Sinne abbilden noch sonst wie repräsentieren wollen, die auch nicht im abstrakten Sinne auf persönlichen Ausdruck, Unmittelbarkeit und Spontaneität abzielen, sondern auf die Beteiligung der Betrachterinnen und Betrachter. Diese sowohl in Europa, als auch in den USA (und darüber hinaus) zu beobachtenden künstlerischen Vorgehensweisen und Haltungen hatten zum Ziel, Kunst und Leben in ein fruchtbares, durchaus auch mit Spannung aufgeladenes Verhältnis zu bringen. Selbst wenn manche hierin nur das Nachglühen des alten (gescheiterten) avantgardistischen Traumes, Kunst und Leben deckungsgleich zu machen vermuteten, zeichneten diese nicht nur zufälligen Gemeinsamkeiten ein Bild ihrer Zeit in diesen auch anderswo, vor allem auf politischer Ebene sehr bewegten 1960ger Jahren. Der junge Schweizer Kurator Harry Szeemann hat damals als einer der Ersten diese Gemeinsamkeit in der Verschiedenheit erkannt und 1969 in seiner epochemachenden Ausstellung When attitudes become form zusammengefasst. Sie stellte Werke vor und setzte sie in einen spannungsreichen Dialog, welcher das bisherige Kunstverständnis radikal infrage stellte.

Und was hat Rentmeister damit zu tun? Ohne explizit Bezug zu solchen inzwischen ein halbes Jahrhundert zurückliegenden künstlerisch- kuratorischen Pionierleistungen zu nehmen, gibt es auch im Werk Rentmeisters eine Radikalität im Umgang mit verschiedensten nicht gerade kunsttypischen Materialien. Die für sein Werk typische sockellose Positionierung einer Arbeit im Raum und die sinnstiftende Kombination höchst heterogener Materialien miteinander lassen auf eine Haltung schließen, die die Möglichkeit einer assoziativ vorgehenden, Verknüpfungen herstellenden Betrachtungsweise durch die Betrachter begünstigt. Wie in Rentmeisters plastischem Werk Disparates vereint wird und wie auf diese Weise Bedeutung entsteht, verdeutlicht die integrale Rolle der Betrachter, die auch hier gleichsam als Vollender des Werkes fungieren. In der Tat hat das OEuvre Rentmeisters gewisse Wesensmerkmale mit den Werken den Minimal Art, der Arte Povera und verwandter Kunstrichtungen gemeinsam – ohne dass es sich im Sinne eines zitierenden oder gar appropriierenden Verständnisses als „Kunst nach Kunst“ verstanden wissen möchte. Es gibt also durchaus bestimmte Wesensmerkmale des Rentmeisterschen Werks, welche zeigen, dass es Anknüpfungspunkte an Positionen der jüngeren Kunstgeschichte gibt. Doch bei näherer Betrachtung werden grundlegende Unterschiede klar, die zum Spezifischen seines Werks führen.

Kühlschrank und Penatencreme. In einer signifikanten Arbeitaus dem Jahr 2004 lassen sich exemplarisch sowohl besagte Anknüpfungen an Vorausgehendes, als auch deutliche Unterschiede und Eigenständigkeiten festmachen. Die zunächst anarchisch wirkende und doch präzis gelenkte hybride Kombinatorik disparater Elemente findet sich hier wieder. Ebenso die Möglichkeit einer beinahe spielerischen Bedeutungsaufladung durch die Betrachtenden. Worum geht es also bei diesem Werk? Fünf entkernte Kühlschränke bilden hier ein skulpturales Ensemble. Die weißen Außenhüllen der ausgedienten Gerätschaften werden kompositorisch so einander zugeordnet, dass sie sich gegenseitig zu durchdringen scheinen. Prima Vista könnte diese dynamische Setzung formal an ein postmodernes Architekturensemble à la Frank Gehry oder an eine aus dem Boden wachsende Kristallformation erinnern. Doch es fällt noch etwas anderes, sehr Bemerkenswertes auf. Dort wo die weißen Quader aneinanderstoßen, oder ineinander überzugehen scheinen, kam reichlich Penatencreme zum Einsatz. Thomas Rentmeister hat in der Tat alle Ritzen, Spalten und Zwischenräume mit der normalerweise vor allem für die Hautpflege Verwendung findenden weißen Creme regelrecht verspachtelt, was sich auch olfaktorisch in der direkten Umgebung bemerkbar macht. Dieser typische leichte Zitronenduft ist den meisten Deutschen noch aus ihrer Kindheit bekannt und dürfte bei den Betrachtenden unterschiedliche Erinnerungen und Assoziationen auslösen.

Hart und weich, fest und pastos, geometrisch und amorph. Schauen wir noch einmal genauer hin: die weiße Masse wurde mit unterschiedlichen Spachteln wie feiner Wandputz aufgetragen und bleibt in ihrer neuen Rolle erstaunlicher Weise formstabil. Die seinerzeit mit Absicht nach den römischen Schutzgöttern für Haushalte benannte Pflegecreme passt sich einerseits recht gut der Oberfläche und der Farbe der Kühlschränke an, andererseits spielt sie im haptischen Sinne dabei einen durchaus malerisch zu nennenden Counterpart. Rentmeister gelingt es die Kombination von Haushaltsgegenstand und Pflegecreme, hart und weich, kantiger Form und amorpher Masse auf ästhetischer Ebene in ein stabiles Gleichgewicht zu bringen und auch dort zu halten. Von ihrer ursprünglichen Funktion befreit können Kühlschränke und Penatencreme nunmehr in einem neuen (kunstspezifischen) Kontext, auf einer anderen (symbolischen) Ebene wahrgenommen werden. Man kann sogar über sie ästhetisch räsonieren – und doch bleiben sie nach wie vor als das, was sie eigentlich sind, erkennbar. Gerade durch ihre spürbare Gegensätzlichkeit werden sie zur eigendynamischen Energiequelle im Sinne des Comte de Lautréamont, die einen geradezu subversiven Strom von Assoziationen und Gedankenketten begünstigt. Begriffe wie Wärme und Kälte, Innenraum und Außenraum, Natur und Technik, aber auch Schutz, Pflege, Geborgenheit und Heilung können so ohne weiteres assoziiert und im freien Spiel der Gedanken zu Metaphern über den Zustand der Welt weiterentwickelt werden, auch wenn dies niemals per se in ihnen eingeschrieben war.

Spiel mit Bedeutungen. Rentmeisters Verwendung verschiedener Materialien, ihr zweckfreier, aber doch immer überraschend sinnstiftender Einsatz schafft die Grundlage seiner bedeutungsoffenen und doch präzise formulierten Arbeiten. Anders als es bei den Werken der Minimal Art der Fall und von deren Vertretern erwünscht wäre, führt die ästhetische Auseinandersetzung mit ihnen in der Regel zu einem freien Spiel mit Bedeutungen. Und anders, als es von der Arte Povera seinerzeit intendiert war, liegen diese Bedeutungen nicht unbedingt im Kanon der Kulturgeschichte des Abendlandes begründet, sondern ergeben sich erst auf die eine oder andere Weise im Rahmen der assoziierenden, Beziehungsgeflechte webenden Betrachtung. Diese Bedeutungen stehen nicht fest im Sinne einer kanonischen Setzung, sondern variieren, verändern sich und schlagen im Rahmen der Betrachtung bisweilen in ihr Gegenteil um. Diese Eigenschaft ist nicht Symptom einer Beliebigkeit, sondern einer bewussten im Sinne des Werkes sehr überlegten Vorgehensweise. Auf diese Weise werden selbst Penatencreme, Zuckerwürfel, Nutella, Papiertaschentücher, Feinrippunterwäsche, Steckdosen, Kühlschränke, Wattestäbchen, Kartoffelchips und der Klebstoff Pattex zu Bedeutungsträgern, welche einfallsreich untereinander kombiniert plastische Setzungen mit einem vielschichtigen Gegenwartsbezug und hoher Aussagekraft ausformulieren. Kehren wir also zurück zur Arbeit im Kunstverein Ruhr und denken in diesem Sinne weiter.

Rippenstreckmetall. Warum also ist ausgerechnet dieses u.a. in der Baubranche gebräuchliche Material für einen Künstler wie Rentmeister 2019 von Interesse? Warum greift er in seiner Essener Installation auf etwas zurück, das wegen seiner Eigenschaften und Inanspruchnahme bis jetzt nur Teil außerkünstlerischer Realität war? Schauen wir also nochmal genauer hin: Streckmetall gibt es schon seit über einhundert Jahren. Es wurde entwickelt, um ein leichtes, zugleich sehr festes, aber auch bedingt formbares Material zu erhalten: Seine Verwendung als Putzträger im Bauwesen darf als ursprünglicher und eigentlicher Zweck angesehen werden. Im Sinne dieser Zweckdienlichkeit verschwand es in der Regel unter einer Schicht Außenputz, für den es nicht nur eine ideale poröse Grundlage, sondern auch Stabilisator war. Das Herstellungsverfahren gleicht dem von kaltgewalztem Blech. In diese dünne in Spannung gebrachte Blechbahn werden versetzte Öffnungen regelrecht hineingestanzt. Dies geschieht ohne Materialverlust mithilfe kammartiger Messer, die in der Lage sind, das Blech regelmäßig zu perforieren. Weil das weniger als 0,5 mm dünne Blech in einer sehr starken Zugspannung verarbeitet wird, öffnen sich die versetzten Schnitte und die Blechbahn wird in Längsrichtung stark gedehnt. Auf diese Weise entsteht die für Streckmetall charakteristische oft rautenförmige Gitterstruktur ohne Abfälle. Die Maschenlänge kann dabei abhängig von der Art der Messer weniger als 1 mm, aber auch bis zu 30 cm betragen und die Dehnung der derart perforierten Bleche kann vom zweibis zum zwanzigfachen gehen. Und noch eine besondere physikalische Eigenschaft gehört zu den Wesensmerkmalen des Materials: Diese Streckmetallgitter erlangen gerade durch den Vorgang des sogenannten „Kaltreckens“ und die damit verbundene Versprödung eine enorme Festigkeit und Flächenstabilität. Ihre gestanzten und gedehnten Kanten sind in der Regel messerscharf, was auch im Fall der von Rentmeister verwendeten Gitterbahnen der Fall ist.

Nicht gut nicht böse. Diese Stabilität und die scharfen Kanten dürften auch mit ausschlaggebend gewesen sein bei der Verwendung von Streckmetall für Grenzbefestigungen an der bis vor drei Jahrzehnten bestehenden innerdeutschen Grenze. Die makabre im doppelten Sinne „schmerzhafte“ Bedeutung des bis 1989 von der DDR eingesetzten Materials wird noch gesteigert durch die Tatsache, dass es in Westdeutschland hergestellt wurde. Bevor es seinen abschreckenden oder in manchen Fällen auch physisch verletzenden Zweck erfüllten konnte, musste es also vom ostdeutschen Regime gekauft und eingeführt werden. Mit diesem wahrhaft gemischte Gefühle erzeugenden Beispiel soll hier keinesfalls eine Verurteilung oder Ächtung des Materials im moralisch- ethischen Sinne versucht werden. Es gibt schließlich noch ganz andere Verwendungsformen, die klar machen, dass Streckmetall (wie wir es ja schon vom Baugewerbe wissen) auch im sprichwörtlich „guten“ Sinne Verwendung finden kann. Ein Beispiel einer positiven Möglichkeit Streckmetall einzusetzen ist seine Verwendung in der Medizin. Hier wird bei Stents die im Prinzip gleiche durch Schnitte und Dehnung erzeugte Gitterstruktur dazu verwendet, periphere Arterien offenzuhalten. Und spätestens die von diesem Material inspirierte perforierende Flächenbehandlung bei heilenden Hauttransplantationen zeigt, dass die um 1900 gemachte Erfindung sogar die medizinische Forschung und Praxis positiv zu beeinflussen in der Lage war. Wenn Thomas Rentmeister dieses im Sinne seines Einsatzes und seiner Bedeutung höchst ambivalente Material für seine Plastiken verwendet, interessiert ihn definitiv nicht, ob es für gute oder böse Zwecke eingesetzt wird, sondern welche Möglichkeiten es aufgrund seiner beschriebenen physikalischen Grundeigenschaften weiterhin eröffnet und was es im künstlerischen Sinne zu leisten vermag. Er fügt zu allen bisher bekannten Möglichkeiten dieses Material anzuwenden, zu interpretieren, auf andere Lebensbereiche zu übertragen noch die neue künstlerische hinzu: Diese, konsequent zu Ende gedacht, bringt nicht nur weitere Mehrdeutigkeiten hervor, sondern begünstigt eine komplexe, der Kunst vorbehaltene Wahrnehmungs- und Erfahrungsmöglichkeit.

Einsicht. Besondere Merkmale der Essener Arbeit sind die sichtbaren, nach und nach während des Arbeitsprozesses entstandenen Abteilungen oder Räume innerhalb des großen Raumkörpers, welche zusammen wie ein vielfach verschachteltes Kontinuum wirken. Manche Besucher mögen dabei an die berühmten Carceri von Piranesi denken, denn diese Raumelemente erscheinen auf ähnlich komplizierte und komplexe Weise miteinander verbunden. Mehrere der Kammern oder Nischen enthalten als dunkle Silhouetten erkennbare, nicht ohne weiteres zu identifizierende Gegenstände. Sie geben auch nach mehrfachem Hinsehen Rätsel auf. Es sind einstige, vor längerer Zeit ausgemusterte Kleidungsstücke des Künstlers, die sorgfältig in die Raumskulptur eingeschrieben worden sind und so zu ihrem Bestandteil werden. Bisweilen sehen diese getragenen Textilien aus wie seltsame dunkle zusammengekauerte Bewohner des komplexen Gitterwerkes und seiner zellenartigen Kammern. Ihre Beschaffenheit und Materialität sind wegen der Gitterstrukturen, hinter denen sie sich befinden, nicht ohne weiteres zu erkennen, was einen beinahe als grafisch zu bezeichnenden Hell-Dunkel Kontrast zwischen weißer Wand, Gitterwerk und dunklen Kleidungsstücken erzeugt. Diese schwarzen, einst an die Person des Künstlers gebundenen Einsprengsel lenken immer wieder unsere Blicke durch die dichten Schraffuren der netzartigen Gitterbahnen. Man ist mal mehr, mal weniger in der Lage sehend bis zu ihnen vorzudringen. Immer wieder muss man, um einen idealen Blickwinkel zu erhalten, die netzartigen Strukturen gleich mehrerer Schichten Streckmetall durchdringen. Doch wie in einem im Werk angelegten Manöver entziehen sich die Gegenstände immer wieder ihrer genauen Fixierung und Identifizierung, bleiben amorphe Fixpunkte innerhalb der silbrig glänzenden Textur.

Phänomenologie. Bewegt man sich als Betrachterin und Betrachter vor diesem Werk, durchmisst den Ausstellungsraum von vorn nach hinten, geht dabei ein wenig in die Knie, oder blickt diagonal durch das Gitterwerk, um neue Blickwinkel auszuloten, beginnt das, was man zurecht eine „ästhetische Erfahrung“ nennen kann. Denn man wird gewahr, dass die eigene körperliche Anwesenheit im Raum zu einer Grundbedingung unterschiedlicher, einander ergänzender, aber zum Teil auch sich widersprechender Einblicke wird. Dabei spielen natürlich die sich wie dichte Linien einer Schraffur überlagernden Gitternetze eine entscheidende Rolle. Sie addieren sich gegenseitig auf, bilden überraschende moiréartige Strukturen, welche einmal mehr, einmal weniger opak wirken, dann aber plötzlich wieder transparent erscheinen. Selbst die kleinste Bewegung des Kopfes vermag schon höchst unterschiedliche ineinander übergehende Einblicke und Erfahrungen auszulösen. Ein wichtiger Faktor kommt hinzu: Die Eigentätigkeit des Auges, also unsere Fähigkeit das weiter hinten Liegende zu fokussieren, optisch „scharf“ zu stellen, um sich dann wieder auf etwas vorne Befindliches zu konzentrieren, erzeugt überraschende, zum Teil irritierende Einsichten und Durchblicke. Die derart permanent variierenden Eindrücke bleiben keine bloßen Sehvorgänge ohne weitere Bedeutung, sondern gehen tiefer. Sie werden uns als gewollter Bestandteil des Werkes zunächst schlagartig und schließlich nachhaltig bewusst. Und das hat Konsequenzen für die nunmehr differenzierte Einschätzung der gesamten Arbeit.

Lesbarkeit. Es geht um eine spezielle, in der Textur des Werkes angelegte und von den Betrachtenden auch einlösbare „Lesbarkeit“ und die von ihr begünstigte und aus ihr hervorgehende Lesart. Unser Blick schwelgt nicht interesselos auf glatten Oberflächen, er ruht sich auch nicht auf schönen und zugleich eindeutigen Formen aus, sondern hakt sich gleichsam an den Unregelmäßigkeiten, den Ecken, Kanten, Windungen und Gängen fest, kommt derart „lesend“ ohne Probleme von dem einen zum anderen, das heißt im Falle der Essener Ausstellung vom kruden Baustoff als solchen zu dessen vieldeutigen bereits beschriebenen Aspekten. Ein solch lesender Blick vermag sich mühelos mit dem Verstand, dem Zweifel, und natürlich auch dem Sprachvermögen verbünden. Auf diese Weise kommt im Idealfall eine Verbindung von Intellekt und Intuition zustande, welche bei Betrachter und Betrachterin, die sich auf das Ganze einlassen, Analogien, Assoziationen und Erinnerungen zutage bringt. Eine Textur, die sich in beschriebener Weise von vornherein eindeutigen Zuordnungen widersetzt, die deshalb am Ende sowohl das eine als auch das andere „bedeuten“ kann, aktiviert konstruktiven Zweifel und fördert zugleich nicht nur die visuelle, sondern auch die gedankliche, bisweilen fantasievoll-spekulative Eigentätigkeit und Auseinandersetzung.

Selbstwahrnehmung – Ästhetik und Ethik. Die Betrachterinnen und Betrachter beginnen im Rahmen dieser ästhetischen Wahrnehmung zu begreifen, dass sie es selbst sind, die diese unterschiedlichsten Erfahrungen am stets gleichbleibenden Objekt machen können. Sie betrachten also nicht nur, was sie da vor sich sehen, sondern fangen zugleich an über diese vielschichtigen Wahrnehmungsvorgänge als solche nachzudenken. Die Bedingungen der Möglichkeiten einer soeben gemachten vielschichtigen Erfahrung werden in dieser selbst nachvollziehbar und zum Bestandteil der gesamten Wahrnehmung. Dazu gehört auch das Begreifen der eigenen körperlichen Anwesenheit im Raum und die Einsicht, dass eine Betrachterin oder ein Betrachter die/der sich gerade an einer anderen Stelle im Raum befindet, die Raumarbeit vollkommen anders als man selbst sehen muss. Die Konsequenz daraus ist, dem/der Anderen eine von der eigenen Ansicht differierende Sicht der vorgegebenen Situation einzuräumen. Hier aber gelangt das ästhetische Räsonnement wie von selbst zu einer ethischen Befragung der Situation. Sie wächst über eine rein subjektive, hedonistische Betrachtung hinaus, weil sie permanent den Standpunkt und die Ansicht eines Anderen einzubeziehen vermag.

© Peter Friese

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