Thomas Rentmeister

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Leigh Robb: Zustandsbericht

Katalogtext zur Ausstellung „Thomas Rentmeister. Objects. Food. Rooms.“, Kunstmuseum Bonn, 19.10.2011 – 05.02.2012; in: Thomas Rentmeister. Objects. Food. Rooms., (Kat.) Kunstmuseum Bonn und Perth Institute of Contemporary Arts, Köln 2011, S. 137–139, engl. S. 140–142; aus dem Englischen übersetzt von Stefan Barmann.

Ein Blick auf die Anfänge der künstlerischen Laufbahn von Thomas Rentmeister eröffnet Einsichten darüber, wie sich seine künstlerische Praxis über die vergangenen drei Jahrzehnte entwickelt hat. Betrachten wir die zentralen, wiederkehrenden Ideen und Materialien, die Rentmeister wiederholt umwandelt oder in Unordnung bringt, so erkennen wir, wie er den Minimalismus, mit dem seine Werke oft verbunden oder verglichen werden, erweitert und zugleich produktiv pervertiert.

Viele künstlerische Untersuchungen der späten 1960er Jahre dokumentieren ein Interesse an Gitterstrukturen, modularem Denken, Serien, Wiederholung und systematischen Prozessen in der Kunst, für das schließlich der Begriff Minimalismus geprägt wurde. Seinerzeit verfasste Mel Bochner, ein mit Serien arbeitender amerikanischer Künstler und Schriftsteller, den bahnbrechenden Aufsatz „Serial Art, Systems und Solipsism“, der Serialität eher als Verfahren denn als bildnerische oder formale Tendenz beschrieb. [1*) Mel Bochner, „Serial Art, Systems, Solipsism“, in: Arts Magazine, Sommer 1967, in: Gregory Battcock (Hrsg.), Minimal Art: A Critical Anthology, E.P. Dutton & Co., Inc, New York 1968, S. 93.] Bochner traf eine klare Unterscheidung zwischen dem Arbeiten in Serien und dem Gestalten verschiedener Versionen eines Grundthemas, beispielsweise Morandis Stillleben mit Flaschen oder Willem de Koonings Frauengestalten. Demgegenüber führte Bochner das Exempel seines Künstlerkollegen Carl Andre und dessen Gittermodulsystem an, das Materialien wie Backsteine, Zementblöcke oder Holzbalken umfasste, und zwar als Einheiten, die Bestandteile eines selbst generierenden Systems waren. Bei Dan Flavin wurde die zweieinhalb Meter lange Leuchtstoffröhre zu der Einheit, die sich mit anderen Einheiten kombinieren ließ und als Baustein eines Systems fungierte. [*2 James Meyer, Minimalism: Art and Polemics in the Sixties, Yale University Press, New Haven und London 2001, S. 100.] Wie Bochner erläutert, sei es das gemeinsame Merkmal eines bestimmten Typus von Kunst, der in den späten 1960er Jahren entstand und als „minimalistisch“ bezeichnet wurde, dass er eine „klar sichtbare und einfach geordnete Struktur“ [*3) Mel Bochner, „Serial Art, Systems, Solipsism“, in: Arts Magazine, Sommer 1967, in: Gregory Battcock (Hrsg.), Minimal Art: A Critical Anthology, E.P. Dutton & Co., Inc, New York 1968, S. 93.] aufweise.

In seinem späteren Aufsatz „The Serial Attitude“ (Die serielle Haltung), der 1967 in Artforum erschien, überarbeitete Bochner seine Definition von Serialität und bekräftigte nachdrücklich, dass „serielle Ordnung eine Methode ist, kein Stil“. Als Belege für diese besondere serielle „Haltung“ nannte er Donald Judds Arbeiten aus verzinktem Eisen, Sol LeWitts mehrteilige orthogonale Bodengitterstrukturen, Hanne Darbovens komplexe Zeichnungen und Eva Hesses Konstruktionen. Bochner verdeutlichte seine Position durch eine Reihe von Arbeitsthesen, um seriell geordnete Werke von multiplen Variablen zu unterscheiden: Erstens entstehen die Glieder oder Binnenaufteilungen des Werks mittels eines numerischen oder auch systematisch vorbestimmten Prozesses (wie Permutation, mathematische Reihe, Rotation, Umkehrung); zweitens hat die Ordnung Vorrang vor der Ausführung; drittens ist das fertige Werk grundsätzlich karg und selbstgenügsam. [*4) Mel Bochner, „The Serial Attitude“, in: Artforum, Bd. 6, Nr. 4, Dezember 1967, S. 28.]

Es scheint ganz so, als seien viele dieser ordnenden Prozesse für Thomas Rentmeisters methodisches Vorgehen und seine oft monochromen Werke von fundamentalem Belang. Im Einklang mit Bochners Vorgaben steht, dass Rentmeister Haushaltsmaterialien aus industrieller Massenfertigung systematisch als Einheiten oder als Bausteine einsetzt – von Zuckerwürfeln über Wattestäbchen bis hin zu Papiertaschentüchern, Steckdosen und ganzen Kühlschränken. Die Konstruktion selbst generierender Systeme steht in der Tat im Mittelpunkt von Thomas Rentmeisters Praxis, doch genau an diesem Punkt trennen sich die seriellen Strategien und die zurückhaltende Logik des Minimalismus buchstäblich voneinander. Rentmeisters Praxis ist nämlich entschieden unkarg, ja neigt zur Ausuferung. Auch hat die Produktion des Künstlers nichts Selbstgenügsames; vielmehr tendieren seine einzelnen Werke wie seine Arbeit insgesamt dazu, sich organisch zu vermehren, zu schwären oder bis zum Explosionspunkt anzuwachsen. Selbst wenn es zu einer Eruption oder zu einer gefährlichen Zustandsveränderung kommt, ist dies nur dazu angetan, eine neue Werkgruppe oder Gewächsfamilie entstehen zu lassen. Als Ausgangspunkt verwendet Rentmeister regelmäßig die Gitterstruktur, die sowohl als formales Werkzeug wie auch als konzeptuelle Strategie fungiert, führt sie aber über eine bloße Wiederaufbereitung modernistischer Strategien der 1960er und 1970er Jahre hinaus, indem er den fundamentalen Lehrsätzen des Minimalismus vorsätzlich zuwiderhandelt.

Eines von Thomas Rentmeisters allerersten Werken ist kürzlich zu ihm zurück ins Atelier gekommen. In den vergangenen 20 Jahren hatte es bei der Mutter eines guten Freundes im Flur ihrer Wohnung gehangen. Ohne Titel (1985) ist ein 55 mal 50 Zentimeter breiter Keilrahmen mit schmalen Streifen handelsüblichen Tesafilms, von denen 13 waagerecht und 12 senkrecht verlaufen.

Das erscheint zunächst als ein strenges, mit schlichten Mitteln selbst gefertigtes Gitterwerk, wie die Tragstruktur für einen Keilrahmen, aber ohne die Leinwand. Die Abmessungen sind leicht verschoben; der Rahmen ist höher als er breit ist, so dass er kein exaktes Quadrat bildet. Das Klebeband- Gitter sieht auf den ersten Blick nach tadelloser Ordnung aus – die Linien verlaufen gleichmäßig von oben nach unten, ohne Lineal, aber mit Augenmaß von Hand angebracht. Geht man aber dann die einzelnen Bänder von links nach rechts der Länge nach durch und kommt an die Kante, so sieht man, dass die beiden letzten Streifen sehr eng beieinanderliegen, dass sie zusammengequetscht und in Passform gezwungen worden sind – mit der akkuraten Logik der Gitterstruktur ist es unter der Hand vorbei.

Dreht man den Rahmen um und schaut sich die Rückseite an, so zeigt sich, dass das Band an den jeweiligen Kanten mit Rentmeisters bevorzugtem Pattex-Kleber und weißen Stofffetzen-Streifen festgehalten wird. Den Holzrahmen hat er, wie jeder anständige Kunststudent es tun würde, selbst gebaut, und zwar mit Standardlängen-Elementen aus dem Künstlerbedarfshandel. Das Klebeband könnte von überall her stammen; es ist ein gängiger Haushalts- oder Büroartikel. Ein genauerer Blick auf den Zustand des Klebebands ergibt, dass es 27 Jahre lang gehalten hat, aber ausgetrocknet, verhärtet und vergilbt ist. Wie eine Fliegenfalle hat es auf seiner klebrigen Seite Staub-, Dreck- und Haarpartikel eingefangen, sodass man durch das gealterte, aber transparente Band hindurchsehen kann und Relikte des Alltags erblickt. Es hat etwas Zufälliges, wie sich diese Abfallprodukte der Zeit auf dem Band angesammelt haben, das aus der Ferne makellos wirkt, sich bei näherer Betrachtung aber als verschmutzt erweist. Ohne Titel (1985) ist ein Angelpunkt in Rentmeisters OEuvre, und eine eingehende Betrachtung seiner Materialien und seines derzeitigen Zustands verrät viel über die inhärente Ordnung und Chaotik, die in seiner gesamten Praxis eine glückliche Koexistenz führen.

Nur kurze Zeit nach der oben genannten Arbeit, dem Klebebandgitter, fertigte Rentmeister eines seiner bekanntesten Werke, ohne Titel, (1985), eine echte Fliegenfalle. Collage genauso gut wie Gemälde, besteht sie aus 36 Fliegen in sechs gleichmäßigen Sechserreihen, befestigt auf einer 30 mal 30 Zentimeter messenden Leinwand, die Leerflächen zwischen den Insekten rasch mit Ölfarbe ausgepinselt. Diesmal wurden Linien aus - gemessen und mit dem Lineal auf der Leinwand gezogen, wobei das blaue Filzschreibergitter noch gut sichtbar durchschimmert – ein augenzwinkernder Verweis auf Minimal-Künstler wie Agnes Martin oder Hanne Darboven. Die Fliegensammlung wurde nicht wie in einem Naturkundemuseum sorgfältig aufgespießt, sondern ist mit Klecksen von Pattex fixiert, einem ebenso geruchsintensiven wie starken synthetischen Bindeklebstoff von unverkennbarer, gelber Farbe. Die Fliegen sind Einheiten, doch jede davon steht für etwas, das Keime verbreitet und Krankheiten überträgt, und ist selbst ein natürlicher Organismus, der voraussichtlich mit der Zeit zerfällt. Wie viele Arbeiten Rentmeisters zeichnet sich ohne Titel (1985) durch zwei scheinbar gegensätzliche Prozesse aus: das streng Geometrische auf der einen Seite und das Organische und Unberechenbare auf der anderen.

Rentmeister zieht es zu industriellen oder synthetischen Materialien wie Polyesterharz, Plexiglas, Bronze und Metall, aber es zieht ihn auch wieder holt zu Materialien, die weich bleiben beziehungsweise Eigenschaften von Weichheit oder Verschwommenheit aufweisen. Penatencreme dient als Verbundstoff für seine Kühlschränke (Santo*, 2003), Nutella als Mörtel für seine Styroporblöcke (ohne Titel, 2010) und Pattex als Klebstoff für die Tampons, Wattestäbchen und Tic Tacs in seiner Werkgruppe der Diagramm-Collagen aus den Jahren 2008–09. Pattex, das aussieht wie Kitt, der jeden Moment zerschmelzen könnte. Hintergründiger noch weisen seine Arbeiten oft Fett- oder Schmierspuren von öligen Fingern oder Essensresten auf. Eines von Rentmeisters erst kürzlich geschaffenen Werken knüpft ausdrücklich an das oben genannte Klebebandgitter an. Ohne Titel (2011) ist eine edel gerahmte rechteckige Gitterstruktur aus neun verschiedenfarbigen DINA4-Aktenordnern, die stark abgenutzt sind, viele Flecken haben und somit schmierige Verzeichnisse der bei der Arbeit verzehrten Speisen und Getränke darstellen. Ähnlich wie die frühe Klebebandarbeit ist auch dieses Werk im Büro oder im Atelier des Künstlers wie von selbst entstanden – dort, wo Kunstpraxis und alltägliches Leben eine Einheit bilden. In einer Arbeit aus dem Jahr 2007 dagegen präsentiert Rentmeister eine Möbeldecke (wie sie auch zum Verpacken von Kunstwerken verwendet wird) mit zerknüllten braunen Paketbandstücken, die so aus sehen, als wären sie zufällig an der haarigen Oberfläche der Decke haften geblieben. Hier aber hat der Künstler sie absichtlich arrangiert.

Rentmeister paart Materialien und Abläufe aus der häuslichen und der künstlerischen Welt so, dass sie verschmelzen und einander annehmen – wie der Körper, wenn einem Knochen ein Metallstück eingesetzt wird, das fremde Objekt annimmt. Doch unter der Oberfläche liegt etwas Flüchtiges, das die Stabilität des Objekts allzeit gefährdet und das überzogen, verpflastert, bandagiert, versiegelt und an Ort und Stelle festgehalten werden muss. Die Dinge scheinen in Ordnung zu sein, doch ist oft wahrzunehmen, dass etwas im Zustand der von Rentmeister verwendeten Materialien sich verändert oder entgleitet: Oberflächen werden beschmutzt und können ihre Unberührtheit nicht bewahren; ein Objekt ist im Begriff zu schmelzen, zu bersten oder auseinanderzufallen. Die strukturelle Integrität des vorliegenden Werks steht immer auf dem Prüfstand – wie wird es zusammengehalten, wird es halten, wird es sich auflösen, wird es gleich explodieren?

Die Objekte oder Materialien, die Rentmeister wiederholt verwendet, drohen stets ihren Zustand zu ändern; sie unterliegen weniger einer Permutation oder einem Wandel, als dass sie ständig im Begriff sind, sich weiter zu verändern. Seine Praxis umfasst Gitterstrukturen und Wiederholungen oder scheint sich mit der Zeit in einer Werkserie zu entfalten, doch gerade der physische Akt der Erscheinung oder Umwandlung dieser Materialien ermöglicht es dem Künstler, ständig gleitende persönliche Kombinationen aus Objekten, Werkstoffen und Räumen zu erfinden. Am wichtigsten ist aber, dass der Künstler durch das Prinzip der Transformation die strukturelle Integrität jedes beliebigen Werks verlagern kann. Alles ist auf heikle Weise zwischen Stabilität und Explosivität, zwischen Ordnung und Chaos angesiedelt. Briony Fer macht in ihrem Buch The Infinite Line: Remaking Art After Modernism eine scharfsinnige Bemerkung, die sehr gut auf Rentmeisters Praxis passt: „Wenn Wiederholung ein Mittel ist, die Welt zu organisieren, so ist sie auch ein Mittel, sie in Unordnung zu bringen und aufzulösen.“ [*5) Briony Fer, The Infinite Line: Remaking Art After Modernism, Yale University Press, New Haven und London 2004, S. 2.] Thomas Rentmeister schafft Werke, die instabil scheinen, aber auf irgendeine Weise ihre physische Fassung wahren. Der Künstler beschäftigt sich konsequent damit, dass er die wasserdichte Logik des Minimalismus ebenso durchbricht wie sämtliche totalisierenden Thesen, die wir über Materialien oder auch über sein Schaffen aufzustellen wagen.

© Leigh Robb

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