Holger Kube Ventura: Thomas Rentmeister
Katalogtext zur Ausstellung „Über die Metapher des Wachstums“, Frankfurter Kunstverein, 26.05 – 31.07.2011; in: Über die Metapher des Wachstums, (Kat.) Kunstverein Hannover, Kunsthaus Baselland und Frankfurter Kunstverein, Hannover / Muttenz / Frankfurt 2011, S. 90, engl. S. 90f.
Die Skulpturen von Thomas Rentmeister (DE, geb. 1964, lebt in Berlin) sind zumeist als plastische Formen greifbar und als Material oder sogar konkrete Gegenstände gewiß, zeichnen sich aber gleichzeitig durch eine große Bandbreite an Möglichkeiten aus, sie synästhetisch zu erleben. In vielen seiner Arbeiten beschäftigt sich Rentmeister mit dem Kontrast zwischen einerseits dem Wissen über Eigenschaften und Funktionen von Materialien und Gegenständen und andererseits ihrer formalen Perzeption: Wenn Rentmeister mit Nusschokocreme oder Kartoffelchips Objekte und Flächen auf dem Ausstellungsboden komponiert, wenn er Kühlschränke zu einem Quader schichtet und dabei aus formalen Gründen die Zwischenräume der Geräte mit Hautcreme verspachtelt, oder wenn er so unterschiedlich konnotierte Dinge wie z.B. Zucker, Waschmittel, Styroporplatten, Unterwäsche und Papiertaschentücher aufgrund ihrer gemeinsamen Farbigkeit (alle sind weiß!) in einer Bodenskulptur verbindet – dann prallen für die Betrachter Gehalt und Gestalt der addierten Elemente aufeinander und erzeugen spannende Metaphern. Der Künstler kalkuliert sehr genau mit den individuellen Erfahrungen und Erinnerungen an bestimmte Dinge, die die Betrachter seiner Skulpturen mit in die Ausstellung bringen. Der Minimalismus seiner Werke ist „dirty“ (Ursula Panhans-Bühler).
Im Frankfurter Kunstverein zeigt Thomas Rentmeister eine Skulptur, die aus ca. 1.000 Pfund Kaffee besteht. Das handelsüblich geröstete und gemahlene Pulver wurde auf den Boden geschüttet, so dass ein zunächst an einen Baustellen-Sandhügel erinnernder Haufen entsteht. Aus der Distanz betrachtet wirkt er wie eine Berglandschaft, wie eine trostlose Insel, die aus dem Ausstellungsboden hervorragt. Eine dicht über einer Kuhle dieses Haufens – bzw. über einem Tal dieser Berglandschaft – hängende, rote Glühbirne erinnert gleichermaßen an das Bild eines romantischen Sonnenuntergangs, wie an die Wärmebestrahlung einer Brut- oder Zuchtstation: Es scheint, als ob dort Pflanzen oder Insekten wachsen, gedeihen und sich vermehren sollen. Die Skulptur duftet bzw. riecht und reklamiert dadurch einen Raum, der über ihre materielle Grenze hinauswächst.
Wenn Rentmeister Lebensmittel als Materialien für seine Kunstwerke einsetzt, dann rufen diese sowohl individuelle Erinnerungen wach – z.B. an den alltäglichen Umgang mit ihnen – als auch kollektives Wissen: Wie kaum ein anderes Verbrauchsmittel ist z.B. Kaffee (bzw. der Preis für eine 500-Gramm-Packung) ein Seismograph der Lebenshaltungskosten und ein Sinnbild der wirtschaftlichen Globalisierung. Dieser Haufen könnte auch als Visualisierung einer abstrakten, statistischen Angabe zum Kaffeekonsum á la „Durchschnittlich trinkt jeder Bundesbürger pro Jahr...“ gelesen werden. Die Mehrdeutigkeit von Rentmeisters Skulptur ist vergleichbar mit klassischen Vexierbildern, die zwischen verschiedenen Bedeutungsebenen changieren. Darüber hinaus interessieren den Künstler natürlich die physikalisch-bildhauerischen Eigenschaften des eingesetzten Materials. Gemahlener Kaffee besteht aus harten, aber relativ leichten Kügelchen, die deswegen weniger fließend fallen als z.B. Zucker und in der Schüttung eine andere Spannung zwischen Material und Zwischenraum herstellen: Mit Kaffee können keine hohen Berge hergestellt werden, bei genauerer Betrachtung erinnert der Haufen deswegen eigentlich eher an eine Düne, was wiederum neue Assoziationen auslöst.
In einer zweiten im Frankfurter Kunstverein gezeigten Arbeit benutzt Rentmeister einen offenkundigen Nachweis des permanenten Wachsens eines menschlichen Körpers – nämlich Abschnitte von Zehen- und Fingernägeln – um damit eine Ikone der künstlerischen Auseinandersetzung mit Unendlichkeit zu zitieren: Durch das regelmäßige Aneinanderfügen der kleinen Halbrunde von Fingernägeln mit den großen Halbrunden von Zehennägeln in einer Vertikalen entsteht eine direkte Referenz zu Barnett Newmans berühmten „Stripes”. Auch diese Arbeit von Thomas Rentmeister ist eine Metapher des Wachstums.
© Holger Kube Ventura