Friedrich Meschede: Das Kind, der Philosoph und der Bildhauer
Katalogtext zur Ausstellung „Thomas Rentmeister“, Städtische Galerie Nordhorn, 30.05 – 19.07.1998; in: Thomas Rentmeister, (Kat.) Städtische Galerie Nordhorn, Nordhorn 1998, S. 2–7, engl. S. 36–41.
Es ist schwierig, über die Werke von Thomas Rentmeister zu schreiben. Die Schwierigkeit liegt darin begründet, dass es sich um Werke von beeindruckender Einfachheit handelt, die das Geheimnis ihrer Anwesenheit als Gegenstand im Raum nicht einfach preisgeben. Die Formen erscheinen in einer Perfektion, in der die Mühe ihrer Fertigung vollständig absorbiert ist. Thomas Rentmeister stellt Skulpturen her, genauer gesagt sind es Plastiken, die dem überlieferten Verfahren nach von einem Gipsmodell in Polyester, durchmischt mit farbigen Pigmenten, gegossen werden. Mittels dieser Technik transformiert Rentmeister die opake, schwere Gipsform in eine dünnhäutige, farbige Polyesterform, deren Oberfläche anschließend zu einer glänzend-spiegelnden Skulptur poliert wird. In diesem langwierigen Prozess des Schleifens und Polierens, mit dem Material in feinen Abstufungen von der gegossenen Form abgenommen wird, behauptet Rentmeister die skulptierende Tätigkeit des Bildhauers, weshalb im Folgenden von Skulpturen die Rede sein soll. Die fertige Skulptur weist keinerlei Spuren ihrer handwerklichen Fertigung auf. Sie steht, sie liegt einfach da, so als ob sie schon immer so dagewesen wäre. In dieser Selbstverständlichkeit der farbigen Formen liegt das Phänomen sowohl des Vertrauten als auch des Fremden begründet.
Der kindliche Blick
Anlässlich einer Ausstellung mit Werken von Thomas Rentmeister im Bahnwärterhaus der Villa Merkel in Esslingen berichtet Renate Wiehager mit einer aufschlussreichen Geschichte von der Wirkung der Skulpturen: Als ein Kind die Werke sieht, ruft es aus: „Das ist ja rosa Luft!“ In diesem befreiend heiteren Kommentar steckt die tiefere Erkenntnis verborgen, dass es Thomas Rentmeister gelingt, das Unsichtbare, nämlich Luft, sichtbar zu machen, sie zu materialisieren. Das Kind kannte offensichtlich bis zu diesem Seherlebnis Luft nur als abstrakten Begriff, von dem es keine bildliche Vorstellung besaß. Diese wurde nun anschaulich, fassbar gar und komisch zudem. Andere Farben der Skulpturen von Thomas Rentmeister bestätigen die Irritation des Kindes. Rentmeister färbt seine Polyesterskulpturen mit Pigmenten in den Tönen Karamel, Schokolade oder ähnlich süßlich anmutenden Farben. Die Größe und geometrische Form der Werke bremst die Vorstellung eines verführerischen Süßwarendepots von paradiesischem Ausmaß. Die beschriebene Reaktion des Kindes kann jedenfalls eine Anleitung sein, die Skulpturen in ihrer Unmittelbarkeit zu erfassen.
Der philosophische Blick
Die Plastiken von Thomas Rentmeister spielen mit der Schönheit und dem Schrecken vor ihr. Das Schöne äußert sich in den hochpolierten Oberflächen, den gerundeten Formen und in der Perfektion ihrer Fertigung. Der Schrecken kommt auf mit der Ratlosigkeit, nicht zu wissen, was diese Formen bedeuten, wo sie entlehnt sind. Die Formen der Skulpturen von Thomas Rentmeister gingen durch die Schule der geometrischen Abstraktion, wie sie von der Minimal-art vorgetragen worden ist. Die Einfachheit der dreidimensionalen Körper dient ihrer präziseren Gestaltwahrnehmung, einer Schulung des bewussteren Sehens von Gewusstem. In der Nachfolge dieser Manifestationen von Skulptur, namentlich von Donald Judd, der aufgrund der Vielfalt der verwandten Materialien von Holz bis Plexiglas Rentmeister beeinflusste, und in der Auseinandersetzung mit dieser Tradition sucht Rentmeister mit seiner Formensprache die Quadratur des Kreises, die Geometrie im Amorphen.
Die entscheidende Frage nach den Bedingungen der Wahrnehmung hatte bereits Gotthold Ephraim Lessing formuliert, als er 1766 seine Schrift „Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie“ verfasste, wobei für Lessing die Plastik auch unter dem Begriff Malerei gefasst ist. Im 17. Kapitel schreibt er: „Wie gelangen wir zu der deutlichen Vorstellung eines Dinges im Raum? Erst betrachten wir die Teile desselben einzeln, hierauf die Verbindung dieser Teile, und endlich das Ganze. Unsere Sinne verrichten diese verschiedenen Operationen mit einer so erstaunlichen Schnelligkeit, dass sie uns nur eine einzige zu sein bedünken, und diese Schnelligkeit ist unumgänglich notwendig, wenn wir einen Begriff von dem Ganzen, welcher nichts mehr als das Resultat von den Begriffen der Teile und ihrer Verbindung ist, bekommen sollen.“ Lessings Schrift wurde vor allem aufgrund der Abgrenzungen zwischen Dichtkunst und bildender Kunst bekannt, der Streit darüber wird am Beispiel der 1506 wiederentdeckten Laokoon-Figuration bekannt, wobei Lessing das Phänomen der Zeit als ein wesentliches Moment von Skulptur erkennt, das im Moment der Darstellung zum Ausdruck kommt. Die Dichtkunst unterliegt einer Sukzessivität, die Plastik lässt Koexistenz von Momenten zu, weshalb es in der Komposition von Skulpturen auf den „fruchtbaren Augenblick“, so Lessing, ankommt, der sich am Beispiel der Laokoon-Figuration im zur Darstellung gewählten Moment der Erzählung ausdrückt. „Bei dem Dichter ist ein Gewand kein Gewand; es verdeckt nichts; unsere Einbildungskraft sieht überall hindurch. Laokoon habe es bei dem ‚Virgil‘, oder habe es nicht, sein Leiden ist ihr an jedem Teile seines Körpers einmal so sichtbar wie das andere.“ (5. Kapitel)
Es ist vielleicht Lessings Ausdruck vom „fruchtbaren Augenblick“, der hilfreich sein kann, die Skulpturen von Thomas Rentmeister im gestalteten Moment einer Form zu begreifen. Die Formen scheinen gerade noch den Moment zu halten, in ihm erstarrt zu sein, unmittelbar bevor sie zu platzen drohen; etwas später, plastisch gesprochen etwas größer und schwerer, und die rosa Luft, die das Kind wie einen Ballon sah, wäre geplatzt. Die Skulpturen ruhen, in sich und doch scheint ihre Masse die Gestalt zu ponderieren, so als umhülle die farbige Haut die klassische Balance von Stand- und Spielbein. Der volumetrischen Form stehen fragile Bereiche wie die Konturen der Standflächen und deren Wölbungen entgegen. Hier wird der Moment, die Labilität des Augenblicks als plastisch gestaltete Form sichtbar. Obwohl uns Rentmeister seine Werke als geschlossene Volumen vor Augen führt, bleibt der Eindruck einer gespannten, hautähnlichen Oberfläche beständig spürbar und vermittelt den Eindruck von Verletzbarkeit. Auf dem polierten Körper wäre jede Berührung sofort sichtbar, jeder Kratzer sofort erkennbar, deshalb scheint die polierte Fläche nichts anderes zu beabsichtigen als Distanz. Der Hochglanzeffekt lässt den Blick nicht tiefer eindringen in die Materialität der Form. Zugleich fangen die Spiegelungen die Bilder der Umgebung ein und bewirken, die Skulptur in dieser bildhaften Erscheinung aus der Distanz zu betrachten. So korrespondieren die Masse der Form und ihre Gestalt mit der Wirkung der Oberfläche zu einem Wechselspiel mit dem Betrachter, die Skulptur zieht an, will von allen Seiten besehen werden und hält zugleich eine Distanz aufrecht, eben nur betrachtet zu werden. Das Haptische der Form, die Lust, sie zu fassen, was durch den Prozess des Modellierens und späteren Polierens deutlich zum Ausdruck kommt, wird bei der vollendeten Skulptur in reine Bildlichkeit überführt. Mit diesem Verständnis von Skulptur ist Rentmeister wiederum der Auffassung von Lessing sehr nahe, denn für Lessing gab es in seiner Betrachtung noch nicht die Raumbezogenheit, die die Skulptur in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts auszeichnet; Plastik ist eine Erstarrung. Für Thomas Rentmeister ist Skulptur in vergleichbarer Auffassung eine Fixierung an einem Ort, von dem aus durch die bildhafte Wirkung der Skulptur ein Bewegungsmoment auf den Betrachter ausgelöst wird, der beginnt, sich den umgebenden Raum zu erschließen, immer ausgehend von der Skulptur.
Anachronismus
In dieser bildmäßigen Erscheinungsweise der Werke von Thomas Rentmeister liegt ein Aspekt verborgen, der die Skulpturen aufgrund ihrer Materialauffassung deutlich absetzt von den Tendenzen vorangegangener Ausdrucksformen. Die sechziger Jahre, die als ein Jahrzehnt der Skulptur bezeichnet werden können, haben vielfältige Konzepte der Materialauffassung hervorgebracht. Die Stofflichkeit ist vielfach selbst Thema des Werkes, u. a. bei Eva Hesse, Bruce Nauman, Richard Serra oder Ulrich Rückriem. Der Anachronismus wäre einerseits in der Tatsache zu erkennen, dass Thomas Rentmeister immer noch Skulpturen macht, obwohl zeitgenössische Kunstformen und das Bewußtsein um die Geschichte der Bildhauerei dieses dem Diktum des Innovativen nach ausschließen müsste. Anachronistisch ist das Werk von Thomas Rentmeister aber auch im Hinblick auf die Bilderfindungen und deren Umsetzung in eine körperlich-dreidimensionale Form. Diese Erscheinungen, die Rentmeister schafft, lassen die Vermutung aufkommen, dass er seine Vorbilder nicht in der Skulptur hat – erinnert sei an die organischen Formen von Jean Arp –, sondern sie den Sehgewohnheiten neuer Medien entlehnt und nun eben die Virtualität vielfacher Möglichkeitsformen in die euklidische Dreidimensionalität zurückübersetzt. Die Abstraktion der Formen von Rentmeister ist nicht in der Tradition abstrahierter Naturformen zu sehen, sondern in der permanent fließenden Wandlung von Bildern, wie sie von 3-D-Programmen am Computer erzeugt werden. Es ist dieses „Kino“ der vorgetäuschten Körper und Dimensionen, das Rentmeister anregt, einen Moment anzuhalten und zu verfestigen. Hier tritt erneut – im zeitgenössischen Gewand – das Laokoon- Motiv Lessings auf, die Vorstellung von der angehaltenen Zeit, das Ausschnitthafte seines Plastikbegriffs, das mit dem Begriff des „fruchtbaren Augenblicks“ in der Fotografiegeschichte des 20. Jahrhunderts und mit Henri Cartier-Bressons Begriff des „entscheidenden Augenblicks“ ein analoges Denkmodell hervorbringt.
Die Werke von Thomas Rentmeister sind nicht Resultat, sondern Antwort auf die entmaterialisierte Welt- und Bildvorstellung heutiger Computergraphik. Dahinter steht der Wunsch, die im 3-D-Programm erzeugte Illusion und aseptische Perfektion der Formen aus dem Bildschirm heraus in die eigene Lebenswelt zu tragen, das Traumhafte der Animation in allen drei Dimensionen des orthogonalen Raumes erlebbar zu machen. Hierin erweist sich das Werk von Rentmeister als anachronistisch, indem er versucht, die unwirklichen Körper des Computerprogramms in die sichtbare Wirklichkeit zu überführen. Dies geschieht bei Rentmeister immer mit einem gewissen Anteil von Humor; die jüngsten Arbeiten scheinen gar Comicfiguren ähnlich. Die Fiktion der Form äußert deutlich narrative Züge, die Komik wird durch die Pose einer Form erzielt. Wieder kommen Schönheit und Schrecken aufeinander zu, das Schöne in Gestalt von Farbe, Form und Figur, der Schrecken dadurch, das die Wirklichkeit so ist, wie sie die Virtualität doch nur vorzutäuschen suchte. Denn anders als im Kino oder eingesperrt im Computer ist die Skulptur Teil unserer Gegenwart. Sie befremdet uns mit ihrer Körperlichkeit, fasziniert mit der Anwesenheit.
„Körperliche Schönheit entspringt aus der übereinstimmenden Wirkung mannigfaltiger Teile, die sich auf einmal übersehen lassen,“ schreibt Lessing im 20. Kapitel, und es bleibt die Frage, ob wir in der Lage bleiben, die Komplexität heutiger Einflüsse auf die einfachsten Formen noch auf einmal zu übersehen. „Diese vermischten Empfindungen sind das Lächerliche, und das Schreckliche“. (23. Kapitel) Die Parabel von Laokoon, mehr noch das, was sie ausgelöst hat, scheint die Grenzen, die Lessing nur zwischen Malerei und Poesie zu begründen suchte, auszuweiten. Die Grenze in der Kunst verläuft heute weniger zwischen den herkömmlichen Gattungen als vielmehr beständig alternierend innerhalb der Medien, die bis heute hervorgebracht worden sind. Wenn Lessing versuchte, den dargestellten Augenblick nach Analyse der überlieferten Texte zu belegen, dann stellt sich Laokoon heute als geistiger Vater der Skulpturen von Thomas Rentmeister im Kampf um den fruchtbaren Augenblick mit der Virtualität zu erkennen, die ihre Faszination im unendlichen sich verändernden Fließen besitzt und keiner dramaturgischen Erzählung mehr unterworfen ist. Aber vielleicht ist dieser Laokoon der größere Schrecken, der Bildschirm als „die bloße weite Öffnung des Mundes“, die Lessing sich vorzustellen versuchte. Darin liegt schließlich der Trost der Skulpturen, dass sie sehr bestimmt nur den einen Moment wiedergeben, in dem man sie unverkennbar als „rosa Luft“ ansieht.
© Friedrich Meschede