Wolf-Günter Thiel: o. T. - zu den Arbeiten von Thomas Rentmeister
Katalogtext zur Ausstellung „welcome“, Galerie Otto Schweins, Köln, 09.11. – 09.12.1995; in: welcome, (Kat.) Galerie Otto Schweins, Köln 1996, S. 25–29.
Brian O’Doherty schreibt 1976 im Rückblick auf die Kunstphänomene der sechziger Jahre über den „White Cube“ als Signet der Moderne. Er sieht die Geschichte der modernen Kunst mit den Veränderungen diese Raumes und der Art und Weise, wie er wahrgenommen wird, in Wechselbeziehung treten. „Wir sind nun an dem Punkt angelangt, an dem wir nicht zuerst die Kunst betrachten, sondern den Raum.“ [*1) Brian O’Doherty: „Inside the White Cube: Notes on The Gallery Space“, New York 1976, in: Wolfgang Kemp (Hrsg.): Der Betrachter ist im Bild. Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik unter dem Titel „Die weiße Zelle und ihre Vorgänger“, Köln 1989, S.280ff. In diesem Zusammenhang sei auf die Ausstellung „Raum der Leere“ von Yves Klein 1960 im Museum Haus Lange verwiesen, die Klein anderthalb Jahre vor seinem Tod geschaffen hat. Die nur 160 cm breite und 440 cm lange „Zelle“, deren Wände eine körnige Oberflächenstruktur aufweisen, ist vollkommen weiß eingefärbt. Dieser „weiße Raum“ wurde vom Künstler als „Zone der Immaterialität, Transitbereich und Ort permanenter Erneuerung“ angesehen. In diesem Zusammenhang verweise ich auf einen Aufsatz Julian Scholl: Funktionen der Farbe. Das Kronprinzenpalais als farbiges Museum, in: Alexis Joachimides, Sven Kuhrau, Viola Vahrson, Nicolaus Bernau (Hrsg.): Museumsinszenierungen. Zur Geschichte der Institution des Kunstmuseums. Die Berliner Museumslandschaft 1830-1990, Dresden u. Basel 1995, S.218f]. Thomas Rentmeister arbeitet dem Phänomen des „White Cube“ entgegen, indem er die vorgefundene Farbigkeit einer im Geschmack der siebziger Jahre gehaltenen Anwaltspraxis belässt und so zwar einen Cube vorfindet, der sich jedoch keinesfalls weiß, sondern in einer „grungigen“ Brauntonvariation präsentiert. Rentmeister erkennt, dass diese Farbpalette die Farbigkeit seiner Artefakte symbiotisch mit dem Raum verwebt. Ohne das Wissen um den Ursprungszustand werden Artefakt und Raum zu einem Environment verschmolzen. Rentmeister ergänzt ein vorab geschlossenes Wertesystem, indem er seine eigenen Kunstwerke so einfügt, dass der Eindruck entsteht, es wäre vom Künstler exakt so konzipiert. Er erreicht eine Umwandlung der Alltagswahrnehmung des vorgefundenen Zustands zu einer Wahrnehmung formaler Werte und verifiziert, dass ein Artefakt auch ohne den „White Cube“ a priori existent ist. Michael Fried schreibt: „Denn der Raum eines Zimmers ist selbst ein strukturierender Faktor, und zwar sowohl durch seine kubische Form wie auch im Sinne der verschiedenartigen Verdichtung, mit der sich unterschiedlich große und unterschiedlich proportionierte Räume auf das Subjekt-Objekt-Verhältnis auswirken können. Dass der Raum eine solche Bedeutung gewinnt, besagt nicht, dass eine Environment-Situation geschaffen wird. Der gesamte Raum wird, so steht zu hoffen, durch die Gegenwart des Objekts auf eine bestimmte angestrebte Weise verändert.“ [*2) Michael Fried: „Kunst und Objekthaftigkeit“, in: Gregor Stemmrich (Hrsg.): Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Dresden, Basel 1995, S.344.] Rentmeister schafft eine Environment-Situation, ohne jedoch dem Artefakt seine Autonomie zu nehmen.
Der „Raumcontainer“ oder das „Autobahnschild“, die alltagssemiotisch bezeichnet sind, verlieren in dieser Situation ihre originäre Konnotation und werden in ihrer Lesbarkeit als Gegenstände artifiziert. Ist eine auf Keilrahmen gespannte Lkw-Plane ein Bild, ein Bildwerk oder nur das, was sie ist? Sie ist Kunst als Kunst als Kunst und nicht Kunst als Lkw-Plane als Zeichen für Gütertransport. Genauso wie der Raumcontainer oder das Autobahnschild nicht für ihre Alltagssemiotik stehen und Logistik oder Geschwindigkeitsbegrenzung vermitteln. Die „Bildskulptur“ steht in der Tradition der Monochromien. [*3) Von dieser Stelle an werden die auf Keilrahmen gespannten Lkw-Planen als Bildskulpturen bezeichnet.] Rentmeister spannt nur noch eine monochrome, PVC-beschichtete Plane auf einen Keilrahmen, ohne sie selbst zu streichen oder streichen zu lassen. Keine Handschrift und keine Spur werden vom Künstler hinterlassen. „Das Gemälde verlässt das Atelier als ein puristischer, abstrakter, nichtgegenständlicher Kunstgegenstand, kehrt zurück als ein Zeugnis alltäglicher (surrealistischer, expressionistischer) Erfahrung (gelegentliche Flecken, Verunstaltungen, Handspuren, Zufalls-‚Happenings‘, Kratzer).“ [*4) (Erklärung zur Ausstellung „Amerikaner 1963“), in: Ad Reinhardt: Schriften und Gespräche, München 1984, S. 144.] Für die Rezeption von Rentmeisters Bildskulpturen bedeutet dies, daß aus dem hinreichend bekannten Dreisprung ein missverstandener Einsprung und zwei zu kurz geratene Schrittchen werden: Kunst als Plane als Zeichen für Güterfernverkehr, und die Assoziationsmaschinerie wird in Gang gesetzt. Reinhardts Beobachtung stimmt; die Bildskulptur wird Träger einer alltäglichen Erfahrung, die nichts mehr mit dem ursprünglich „konkreten“ Gedanken gemein hat.
Clement Greenberg vergleicht 1962 die Malerei von Rothko, Still und Newman mit der „Postpainterly Abstraction“, die schließlich in der Kunst der sechziger Jahre bei Künstlern wie Donald Judd dazu führte, die Malerei zugunsten der Skulptur aufzugeben. Fünf Jahre später schrieb Clement Greenberg den Essay „Recentness of Sculpture“ und widmete sich der Kunstauffassung im Rückblick: „Die Malerei war damals merklich selbstbewusster, und in den frühen fünfziger Jahren stellten sich ein oder zwei Maler direkt der Frage, ab wann die Malerei nicht mehr genügend nach Kunst aussieht.“ [*5) Clement Greenberg: „Neuerdings die Skulptur“, in: Gregor Stemmrich (Hrsg): Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Dresden, Basel 1995, S. 324f.] Greenberg schreibt: „...was in dieser {Greenberg nennt Cramptons Kunst als Beispiel} noch eine echte Herausforderung war, war fast über Nacht zu einer weiteren bezähmenden Konvention geworden. (Die ‚all-over-Malerei‘ von Pollock und Tobey hat vermutlich das ihre dazu beigetragen.)“ Eine monochrome Flächigkeit von sichtlich begrenztem Ausmaß, die keine Wand war, erklärte sich von nun an automatisch zu einem Bild, zur Kunst, auch wenn sie von Kritikern als Negation der Kunst erklärt wurde. [*6) In diesem Zusammenhang sei wiederum auf Brian O’Doherty und dessen Essay „Inside the White Cube“ verwiesen.] „Da der ursprüngliche Look der Nicht-Kunst angesichts der Tatsache, dass selbst eine unbemalte Leinwand sich inzwischen zum Bild erklärte, der Malerei nun nicht mehr zur Verfügung stand, musste die Grenze zwischen Kunst und Nicht-Kunst im Dreidimensionalen gesucht werden, wo die Skulptur ist und wo auch alles materiell Vorhandene ist, das nicht Kunst ist. Die Malerei hatte ihre Führungsposition eingebüßt, weil sie so unausweichlich Kunst war, und nun lag es an der Skulptur oder etwas ihr Ähnlichem, den Fortschritt der Kunst anzuführen.“ [*7) Clement Greenberg: „Neuerdings die Skulptur“, in: Gregor Stemmrich (Hrsg): Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Dresden, Basel 1995, S. 327.] Rentmeister setzt an diesem Punkt an und produziert seine Bildskulpturen aufgrund ähnlicher Überlegungen, jedoch nicht ohne einen humorvollen Hinweis auf Malerkollegen seiner Generation, die wiederum die gemalte Monochromie für sich entdecken. Während die Kollegen auf die im abstrakten Expressionismus schon manifestierten metaphysischen Botschaften hoffen, waren Künstler wie Judd oder Stella eher an der Negation des wiedererkennenden Sehens interessiert. Ihr Interesse galt der Entwicklung der durch Bilder provozierten Modi des Sehens. Das Sehen verändert sich im Laufe der Entwicklung der Malerei des zwanzigsten Jahrhunderts von einem rein wiedererkennenden- zu einem sehenden Sehen autonomer Bildmittel, zum Beispiel der Farbe. Sie ist für die Skulptur identisch mit der Oberfläche, weil sie – ob aufgetragen oder unbearbeitet – den Zustand des Materials widerspiegelt. Oberflächenfarbe ist Materialfarbe. [*8) vergl. Michael Fried: „Kunst und Objekthaftigkeit“, in: Gregor Stemmrich (Hrsg.): Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Dresden, Basel, 1995, S. 357f. „Das Interesse einer bestimmten Arbeit liegt nach Judds Ansicht sowohl in ihrem Charakter als einer Ganzheit wie auch in der blanken Spezifität ihrer Materialien: Die meisten Arbeiten verwenden neue Materialien, entweder neue Erfindungen oder Dinge, die in der Kunst bislang noch nicht benutzt wurden. ...Die Materialien sind sehr unterschiedlich und einfach Materialien – Formica, Aluminium, kaltgewalzter Stahl, Plexiglas, rotes und gewöhnliches Messing usw. Sie sind spezifisch. Wenn sie direkt eingesetzt werden, sind sie noch spezifischer. Normalerweise sind sie auch aggressiv. Es liegt eine Objektivität in der beharrlichen Identität eines Materials. Wie die Form des Objekts, so repräsentieren, bezeichnen und verweisen die Materialien auf nichts; sie sind, was sie sind, mehr nicht. Und was sie sind, ist genau genommen nichts, was ein für alle Male erfasst oder intuitiv begriffen oder erkannt oder auch nur gesehen werden kann. Vielmehr ist die ‚beharrliche Identität‘ eines spezifischen Materials, ebenso wie die Ganzheit der Form, von Anfang an, wenn nicht sogar schon vor dem Anfang, einfach behauptet, vorausgesetzt oder eingeführt.“, ebd., S. 362.]
Wenn es sich um Bildskulpturen, besser Objekte handelt und allenfalls humoristisch auf Phänomene wie Gerhard Merz verwiesen wird, so ist dies eine Variation des Disputes zwischen dem abstrakten Expressionismus und den Kunstströmungen der sechziger Jahre. Wie geht der Rezipient nun aber mit den eigenartig geformten „Bulbs“ (Artschwager benutzte diesen Begriff für seine semiotischen Abenteuer, z.B. bei Konrad Fischer 1968), [*9) vergl. hierzu auch: Jeanne Siegel: „Arp to Artschwager“, Arts Magazine 42, New York City (September–Oktober 1967), S. 60. Diese Ausstellung, von Richard Bellamy für die Noah Goldowsky Gallery, New York, kuratiert, fand meines Wissens zweimal statt. Die Ausstellung, die Siegel bespricht, ist die zweite und fand vom 30. Juni bis zum 5. September statt. Für Hinweise in diesem Zusammenhang ist der Autor jederzeit dankbar!] oder anders bezeichnet mit den biomorphen Schwellformen Rentmeisters um? [*10) Ähnlich wie bei Gerhard Merz besonders neurotische Zeitgenossen Stiefel knallen hören, gibt es nun bei Rentmeister besonders „geile“ Zeitgenossen, die sich an menschliche Extremitäten erinnert fühlen. Aber ähnlich wie die Antwort eines Künstlers im Haus der Kunst in München auf die entrüstete Feststellung eines Rezipienten, bei einem großformatigen monochrom-rotem Bild handele es sich um eine Hitlerfahne, kann die Antwort nur lauten: Es ist keine oder sehen sie das Kreuz. Dem Autor mag verziehen werden, dass er hier auf die Ausbreitung der Analogie verzichtet.] In diesem Kontext sei auf eine Beobachtung verwiesen, die 1967 in dem Essay „Art an Objekthood“ von Michael Fried fixiert wird. Fried kennt den schon erwähnten Aufsatz von Greenberg und fügt ihm einen wesentlichen Punkt hinzu: die Betrachtung des Kunstwerks als referenzloses Objekt. Er konstatiert, dass sich Künstler wie Judd oder Morris vor allem „gegen Skulpturen wenden, die wie die meisten Gemälde Stück für Stück gemacht werden, durch Addition und Zusammensetzung und in denen sich bestimmte Elemente vom Ganzen lösen und damit innerhalb der Arbeiten Beziehungen zustande kommen.“ [*11) Michael Fried: „Kunst und Objekthaftigkeit“, in: Gregor Stemmrich (Hrsg.): Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Dresden, Basel 1995, S. 337.] Beide vertreten hier eine Position, die sich mit der Beobachtung Friedrich Nietzsches aus „Menschlich allzu Menschliches“ in Bezug auf den Künstler und das Kunstwerk deckt: dem Kunstwerk darf der Entstehungsprozess nicht anzumerken sein, sondern es muss so sein, als ob es immer schon bestanden hätte. Fried fasst es so: „Gegen solche vielteiligen, modulierten Skulpturen setzen Judd und Morris die Werte der Ganzheit, des Einsseins und der Unteilbarkeit – ein Werk sei, so gut es geht ein Ding, ein einzelnes spezifisches Objekt.“ [*12) Michael Fried: „Kunst und Objekthaftigkeit“, in: Gregor Stemmrich (Hrsg.): Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Dresden, Basel 1995, S. 338.] Für Rentmeister setzt die Kunst auf die Form als eine gegebene Eigenschaft von Gegenständen oder sogar als ein Gegenstand eigener Art. Allein dies scheint eine wichtige Erkenntnis zu sein, um sich den Polyesterskulpturen semantisch zu nähern. Es sind Objekte, die jeden Herstellungsprozess verschleiern und monolithisch erscheinen.
Bei dem geschlossenen Container und dem entfremdeten Autobahnschild sind die Kanten durch industrielle Fertigung scharf, bei den Bildskulpturen werden sie durch die Materialität der Plane gerundet, und bei den Polyesterskulpturen schließlich sind die Umrisse offensichtlich nicht mehr gekantet konturiert. Das bedeutet: die absolute Gestalt des Quadrats wird nach der Form des Raumcontainers, des Autobahnschildes und der Bildskulpturen zugunsten eines Formenkanons, der optisch biomorph und vom Produktionsmittel her amorph ist, aufgegeben. [*13) Auf eine ikonographische Genealogie dieser Form wird in diesem Zusammenhang verzichtet. Das Thema wird von Paul Klee, Hans Arp, Alexander Calder, Joan Miro, Isamu Noguchi, Friedrich Kiesler, Jackson Pollock, diversen Designern der fünfziger Jahre immer wieder aufgegriffen. Seit Mitte der sechziger Jahre ist die Form vor dem Hintergrund der Nierentischkultur tradiert, bis sie in den achtziger Jahren von Künstlern wie Richard Deacon in den Kunstkontext reimplantiert wurde.] Mit dieser Entwicklung entfällt jedwede Teilung und Gliederung der Skulptur; während der Raumcontainer – maschinell durch den Produktionsprozess vorgegeben – gegliedert ist, ist die Raumskulptur offensichtlich nicht mehr gegliedert. [*14) Amorphität ist in den neunziger Jahren ein Sammelbegriff für mehrere Bewußtseinsphänomene, die offensichtlich nichts mit dem vorgestellten Kunstphänomen gemein haben, wie Multiphrenie (das Gefühl, mehrere Identitäten gleichzeitig zu haben), Polypolitik (die Unfähigkeit, sich einer bestimmten politischen Denkweise zugehörig zu fühlen) oder Altersparadox (die Unmöglichkeit, sich einer bestimmten Altersschicht identitätsmäßig zuzuordnen: 35jährige handeln wie 20jährige und umgekehrt. Im Extrem: Die Ausdehnung der Postadoleszenz bis ins Frührentenalter). es sind jedoch Gliederungen, die klare Abgrenzung oder Struktur von Phänomenen verwischen oder verschleifen. Diese Beobachtung scheint eine Signifikante der Polyesterskulpturen Rentmeisters zu sein.] Im Wachstum begriffene Formen, [*15) Die Form bezeichnet zunächst den Umriss und die äußere Gestalt, dann aber auch den inneren Aufbau, das Gefüge, die bestimmte und bestimmende Ordnung eines Gegenstandes oder Prozesses zum Unterschied von seinem amorphen Stoff (Materie), dem Inhalt oder Gehalt.] die innerhalb einer Metamorphose erstarrt sind, wie heißer Wachs oder Lava, die im Stadium der Erkaltung ihre Form fixieren. Metamorphose von was, woher und wohin?
Aus der Betrachtung der Polyesterskulpturen, der Bildskulpturen, des Autobahnschildes und des Containers lässt sich sagen, dass sie eines sind: „Kunst als Kunst als Kunst, und alles andere ist alles andere.“ Dieser Satz Reinhardts zeigt sehr anschaulich, dass neben der Frage nach der literarischen Komponente, die sich nicht stellt, sich auch die Frage der Form als Projektionsfläche für Assoziationen nicht anbietet. „Kunst als Kunst ist nichts als Kunst. Kunst ist nicht, was nicht Kunst ist.“
Wenn aber ein literarischer Gehalt fehlt, so ist die Inhaltlichkeit anders zu greifen. „Der Zustand eines Körpervolumens kann dem Betrachter über die Farbe in einer bestimmten Weise bewusst gemacht und damit Teil der inhaltlichen Aussage der Plastik werden.“ [*16) Franz Rulofs: Studien zu Farbe und Raum in der Plastik des 20. Jahrhunderts, u.a. Frankfurt am Main 1987, S. 152.] Die Farbanwendung wird zum Instrument, mit dem Materialfarbe, Oberflächenfärbung, reflektiertes Licht, Spiegelung oder Lichtbrechung variiert werden können. In der modernen Plastik wird die Auffassung von den Antipoden der festen Form sowie dem bearbeiteten Material einerseits und dem umgebenden Raum andererseits nivelliert. Künstler haben durch geeignete Oberflächengestaltung die Konsistenz der Körpermasse beeinflusst oder den Übergang von der festen Materie zum Umraum unterschiedlich durchlässig gestaltet. Im Folgenden basiert die Betrachtung der Polyesterskulpturen Rentmeisters auf Franz Rulofs’ Erkenntnissen, der drei Gruppen der Farbanwendung unterscheidet: Farbe und Masse, Farbe und Form, Farbe und Volumen. [*17) Franz Rulofs: Studien zu Farbe und Raum in der Plastik des 20. Jahrhunderts, u.a. Frankfurt am Main 1987, S. 152ff.]
Oberflächenfarbe kann bei einer Körpermasse den Eindruck einer bestimmten Dichte erzeugen. Sie wirkt dann in dem Bereich, der zwischen dem ertastbaren, bzw. messbaren, Volumen und dem optisch erfassbaren Volumen liegt. Rentmeister belässt die Materialfarbe als Oberflächenfarbe, schleift und poliert sie jedoch, erzielt lackähnliche Spiegeleffekte und erreicht so eine Spannung zwischen der optisch biomorphen Grundform und einer Spiegel- oder Hochglanzästhetik. Durch die Lichtreflexe erzeugt er den Eindruck einer variablen Massigkeit des Körpervolumens. Es entsteht der Eindruck verschieden dichter Volumenverhältnisse. Das reale Volumen und die durch Spiegelung entstehende Räumlichkeit stehen in einem Spannungsverhältnis. Im Gegensatz zu seinen Bildskulpturen wird die räumliche Vorstellung des Betrachters durch die Spiegelung der Umgebung in den polierten Flächen angeregt. Gleichzeitig funktionieren die Objekte als Gegenstände im Raum relational. Die angestrebte Wirkung dieser Skulpturen ist, dem Betrachter Raum bewusst zu machen. Dies geschieht dadurch, dass die Verfügbarkeit des Raumes durch das Objekt eingeschränkt wird und dass Flächen und Ausdehnung den angrenzenden Raum, den Betrachter und die Skulptur in Relation setzen. Um dies zu erreichen, wird das große zusammenhängende Volumen durch eine einheitliche Färbung betont. Gleichzeitig wird durch die glänzende Oberfläche dieser Effekt konterkariert, so dass sich beide Effekte in der geschliffenen Oberfläche verschleifen und der Betrachter sich schließlich in der Oberfläche selbst sieht. So stellen – neben dem Aspekt der Relation zwischen Skulptur, Raum und Betrachter – das Volumen der Skulptur und der Betrachter im Spiegelbild der realen Raumsituation eine vexierte gegenüber. Wenn sich nun der Betrachter oder die Gegenstände – genauso wie Licht und Schatten – im Raum bewegen, erfährt auch die Oberfläche der Skulptur eine Veränderung. Hierdurch wird die beschriebene Starre dynamisiert. Durch die Bewegung des Betrachters wandern die vom einfallenden Licht erzeugten Reflexe. Indem die Flächen in Bewegung geraten, werden auch die von den Flächen begrenzten Räume verändert. Rentmeister nutzt das unterschiedliche Vermögen der Farben, auf den Betrachter zuzukommen oder zurückzuweichen, sowie die Veränderbarkeit der Farbeigenschaften bei Zusammentreffen mit unterschiedlichen Formen. So verändern sich bei Bewegung des Betrachters die Formen, gleichzeitig verändert sich auch der „Raumwert“ der Farb-Form-Kombination. Auf diese Weise werden Leerräume dynamisiert, durch die vorgestellten Formen definiert, von Flächen umschlossen, durch Licht dargestellt oder durch Bewegung bewusst gemacht.
Danto fragt J. nach dem Inhalt der Kunst. J. beantwortet die Frage sie sei „über Nichts“. Wie J. betont, ist sein Werk bildleer; weniger ein Fall von Mimesis der Leere als von der Leere der Mimesis, deshalb „über Nichts“, wie er wiederholt. [*18) Arthur C. Danto: Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie zur Kunst, Frankfurt am Main 1991, S.20.] Wie ich jedoch hervorhebe, ist das Werk ebenso wenig über Etwas, und zwar deshalb, weil es ein Ding ist; und Dingen fehlt die Klasse, fehlt Bezogenheit {aboutness; das Über}, gerade weil sie Dinge sind. Wenn aber dies für J. zutrifft, sei die Arbeitshypothese gestattet, dass dies auch für Rentmeister zutrifft. Ist dies also ein leeres Bild oder ein Bild der Leere? Ist es vorstellungslos, phantasielos, surrealustlos? Aus der Überlegung Dantos geht hervor, dass Leere eine Vorstellung, eine Phantasie, sogar eine Zielvorstellung einer Religion sein kann. Das einzige, was das Werk nicht ist: Es ist nicht Etappe auf einem Abstraktionsprozess, wie ihn Cézanne, Picasso oder Rothko eingeschlagen haben. Es ist abstrakt vom Beginn an, es ist konkret Kunst als Kunst als Kunst. Jede inhaltliche Bindung an im Alltag Vorgefundenes, schon Gekanntes verbietet sich und entlarvt sich als zu kurz gedacht. „Es ist nicht recht von Künstlern, ihre Pinselstriche für Gras als ‚ein Gefühl für Natur‘ hinzustellen oder die idiotische Vorstellung am Leben zu erhalten, sie sähen eine ‚Struktur, die hinter der oberflächlichen Erscheinung der Wirklichkeit liegt‘. Künstler, die meinen, dass die Kunst kein Treibhausprodukt, sondern ein Scheißhaus-Nebenprodukt ist, und die sich an Ideen von ‚neuer Natur‘ oder ‚Natur in der Abstraktion‘ beteiligen, sollten zu einer Zeitstrafe harter Arbeit auf dem Feld verurteilt werden.“ [*19) „Dreizehn Regeln zu einem ethischen Kodex für bildende Künstler“, in: Ad Reinhardt: Schriften und Gespräche, München 1984, S. 109.]
© Wolf-Günter Thiel