Thomas Rentmeister

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Marcus Körber: … was bitte schön ist schon normal?

Katalogtext zur Ausstellung „Thomas Rentmeister. Normaltag“, Städtische Galerie Wolfsburg, 27.10.2012 – 24.02.2013; in: Thomas Rentmeister. Normaltag, (Kat.) Städtische Galerie Wolfsburg, Berlin 2013, S. 6–48.

Der unauffällige, womöglich heimliche Blick in den Kühlschrank eines anderen kann interessante, mitunter auch überraschende Einblicke in das Alltagsleben eines Menschen gewähren. Die dort über mehrere Stockwerke zumeist auf weißen Gitterböden geschichteten und kühl gelagerten Esswaren und Konsumgüter können sowohl die uns bekannten Vorlieben des Besitzers bezeugen, als auch dessen achtsam unter Verschluss gehaltenen Leidenschaften preisgeben und enthüllen. Im schummrigen Schein der aufscheinenden Kühlschrankleuchte kann uns jemand gut Vertrautes urplötzlich in einem ganz neuen, uns noch völlig unbekannten Licht erscheinen.

Solche schlaglichtartigen Momentaufnahmen heimeliger Lagerstätten lassen indes nicht nur Rückschlüsse auf normale Verhaltensmuster oder auch widersprüchliche Verhaltensweisen unserer Mitmenschen zu. Der kurze Einblick in die dunklen Tiefen eines Gefrierfaches gibt uns immer auch einen kleinen, aber dennoch sehr interessanten Überblick über die Waren- und Konsumwelt, in der wir heute leben und derer wir uns alle bedienen.

So gesehen geben viele Dinge unserer normalen Alltagswelt mehr von sich und damit zugleich auch von uns preis, als wir es von diesen scheinbar sprachlosen Gegenständen vermuten würden. Jedes noch so normale Dingobjekt, jeder noch so banale Alltagsgegenstand hält einen gewissen Informationsüberschuss bereit, ein surplus, das über seinen Preis, seine Funktion und seine Form hinausweist.

Bestimmte Formen dieses surplus nennen wir umgangssprachlich Mehrwert. Diesen versuchen wir gezielt durch wissenschaftliche Studien nachzuweisen, in Überschuss- und Gewinnrechnungen offenzulegen oder durch hartnäckige Kundenbefragungen zu belegen. Die Basis für die Ermittlung eines Mehrwerts legen wir dabei im Vorfeld durch unsere eigene Zuschreibung dessen, was ein Ding ist, selbst fest. Denn schließlich sind es ja wir, die den Dingen ihren Namen und ihre Form geben, ihnen ihren Wert zuschreiben und ihre Funktion festlegen. Und weil wir die Dinge immer nur aus dieser unserer eigenen, einseitig zweckrationalen Perspektive betrachten und damit die alltäglichen Dinge der Welt immer nur als rein gegenständlich behandeln, haben wir Heidegger folgend eben keinen genuinen Mehrwert geschaffen, sondern ganz im Gegenteil einen allgemeinen Verlust der Dinge zu verantworten, da „das Wesen des Dinges nie zum Vorschein kommt“ [*1) Martin Heidegger: Das Ding. In: ders.: Vorträge und Aufsätze, Bd. 7 der Gesamtausgabe, Frankfurt a. M. 2000, S. 172 ff.], das heißt nie zur Sprache gelangt.

Möchte man über die Kunst von Thomas Rentmeister etwas sagen, so kommt man nicht umhin, über diese ganz normalen Dinge zu sprechen: über ausgediente Kühlschränke ebenso wie über Taschentuchpackungen, Mehrfachsteckdosen, Schnarchpflaster, Konfettischnipsel und viele Dinge mehr.

Das reiche Vorkommen dieser offensichtlich vollkommen bedeutungslosen Gegenstände im Werk des Künstlers mag uns dabei leicht zu der Annahme verleiten, es könnte sich hier um eine beliebige, ja womöglich sogar rein zufällige Auswahl und Ansammlung alltäglicher Relikte unserer Ding- und Konsumwelt handeln. Doch dieses Bild trügt. Und zwar nicht nur im Hinblick auf das künstlerische Vorgehen, den Prozess der Entscheidungsfindung und die Werkentwicklung. Man übersieht zudem leicht, in welch vielfältigen Beziehungen und Spannungsverhältnissen diese Dinge zur Kunstwelt und gleichzeitig auch zu unserer Alltagswelt stehen. Und in manchen Fällen scheint die Trennung zwischen dem einen und dem anderen nicht nur sehr schwierig, sondern geradezu unmöglich zu sein. Die Frage von Alan R. Solomon „Is it a flag, or is it a painting?” [*2) Max Imdahl: „Is It a Flag, or Is It a Painting?” Über mögliche Konsequenzen der konkreten Kunst. In: ders.: Bd. 1. Zur Kunst der Moderne, Frankfurt a. M. 1996, S. 131 ff.] könnte auf Thomas Rentmeister übertragen lauten: „Is it a chair, or is it a sculpture?” Oder auch: Ist das Pappe, oder soll das ein Bild sein?

Seit jeher beschäftigt die Künstler die Frage nach dem Wirklichen. [*3) Arthur C. Danto: Kunstwerke und reale Dinge. In: Die Verklärung des Gewöhnlichen, Frankfurt a. M. 1984, S. 35 ff.] Doch seit über einem Jahrhundert geht man dieser Frage auf vielfach verschlungenen Wegen unter besonderer Berücksichtigung und Verwendung von Alltagsgegenständen nach. Auch Thomas Rentmeister spürt in seinem künstlerischen Schaffen dieser Fragestellung nach, jedoch ohne sie zugunsten der einen oder anderen Kunstströmung oder Kunstgattung zu beantworten. Unbefangen und zwanglos überschreitet er dabei die von der Wissenschaft und oftmals auch von den Künstlern selbst errichteten Grenzlinien und Fronten. Locker durchpflügt er die besetzten Felder, die durchdrungen sind vom utopischen Gehalt des Sublimen vieler Materialpuristen, von den großen Visionen des Reinen und Erhabenen der abstrakten Konstruktivisten, den subversiven Gesten des Pop sowie den provokanten und kritischen Utopien des Nouveau Réalisme.

Doch so leichtfüßig der Tanz über die bestellten Felder der Kunst für uns auch scheinen mag, für den Künstler ist und bleibt sein eigenes Schaffen doch immer eine Gratwanderung, verbunden mit den Gefahren des Absturzes oder auch damit, in großer Höhe unter Eigenbeschuss zu geraten, in ein friendly fire. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, misst man der Unbefangenheit der Kunst von Thomas Rentmeister einen noch höheren Wert zu und genießt es umso mehr, dass sie so unverkrampft und freimütig in Erscheinung tritt, wie sie es seit Jahren tut. Dabei gilt es jedoch zu berücksichtigen, dass dies nicht auf ein rein spontanes und gänzlich intuitiv-künstlerisches, möglicherweise gar naives Handeln zurückzuführen ist. Vielmehr entspringt dieses Handeln einem wohlkalkulierten und sorgfältig durchdachten, freien Spiel mit den in der Kunstwelt geltenden Regeln und Unregelmäßigkeiten wie auch mit den uns eigenen Vorstellungen von normal, gleichförmig und gewöhnlich. Hierdurch nimmt der Künstler zugleich eine Verrückung, Verschiebung und Abweichung von diesen Normen, Regelmäßigkeiten und Standards vor. Das erklärt auch, warum die Werke von Thomas Rentmeister trotz ihrer spielerischen Leichtigkeit niemals nur verspielt wirken. Was indes nicht heißen soll, dass in bestimmten Fällen die künstlerische Setzung innerhalb eines Werkes dennoch spontan und intuitiv erfolgen kann.

Auf anschauliche Weise dokumentiert dies die Kühlschrankgitterskulptur, die Thomas Rentmeister vor Ort für die Ausstellung „Normaltag“ in der Städtischen Galerie in Wolfsburg realisiert hat. Als Konstrukteur, zugleich aber auch als „Bastler“ [*4 „So belehrt uns die Technik fort und fort darüber, dass der Umkreis des ‚Objektiven‘, des durch feste und allgemeine Gesetze Bestimmten, keineswegs mit dem Umkreis des Vorhandenen, des Sinnlich-Verwirklichten zusammenfällt.“ Ernst Cassirer: Form und Technik. In: Gesammelte Werke, Bd. 17, Hamburg 2004, S. 176.] oder „Sampler“, hat er in wenigen Tagen unzählige ausgediente Kühlschrankgitterböden unter-, an- und übereinander gesetzt und mit weißen Kabelbindern verbunden. Entstanden ist eine geometrisch strenge, viereckige, nach oben hin geöffnete plastische Form mit einer äußerst verspielten, vollkommen unregelmäßigen Oberflächenstruktur. Je nach Standpunkt des Betrachters, seines Blickwinkels und des Lichteinfalls ergeben die sich überkreuzenden und überlagernden Gitterstäbe ein bewegtes Linienmuster und eine vielfach gebrochene Gitterstruktur, die bei längerer Betrachtung ein intensives Flirren und Flimmern vor unserer Netzhaut hervorrufen.

In dem Werk „Current“, einem der bekanntesten Bildwerke der Op-Art-Künstlerin Bridget Riley, wird solch ein visueller Effekt nicht durch gebrochene Linienstrukturen, sondern durch schwarze, parallel verlaufende geschwungene Linien erzeugt, die an ihren engsten Stellen den Eindruck eines Pulsierens entstehen lassen. Diesen Wirkungsprinzipien der Kinetischen Kunst und der Malerei der Op-Art, dass sich wiederholende Formen bei längerer Betrachtung eine bestimmte Form der Bewegung evozieren, spürt Thomas Rentmeister auch in seinen „Schnarchpflasterbildern“ nach. Von weitem betrachtet, meint man vor zwei großen, beinahe identischen abstrakten Bildern zu stehen. In ihrer Formsprache erinnern uns diese Arbeiten an konstruktiv-konkrete Malerei oder hinsichtlich ihrer visuellen Wirkung eben an Werke der Op-Art. Bei näherer Betrachtung – und man muss hier wirklich sehr genau hinsehen – erkennt man, dass die markanten, vollkommen identischen hautfarbenen Primärformen auf diesen Bildern nicht mit Pinsel und Farbe aufgetragen oder im Siebdruckverfahren reproduziert wurden. Tatsächlich handelt es sich bei diesen gleichförmigen Gebilden um aneinandergereihte, auf ein großformatiges Blatt Papier geklebte Schnarchpflaster, die massenweise hergestellt werden und in jeder Apotheke erhältlich sind. In der Weise, wie es den Op-Art-Künstlern durch eine raffinierte malerische Operation gelingt, Bewegung und Dreidimensionalität in der Fläche zu simulieren, gelingt es Thomas Rentmeister, einen vergleichbaren Effekt zu erzeugen. Allerdings erreicht er diesen nicht mit malerischen Mitteln, sondern durch Vortäuschung von Malerei, und zwar durch den Einsatz echter, dreidimensionaler, seriell gefertigter Sanitätsprodukte.

So gesehen spielt der Künstler hier ein doppeltes Spiel. Es ist ein Spiel der Vor- und zugleich der Enttäuschung, der Illusion und der Desillusion. Und dies wiederum in zweierlei Hinsicht. Denn die Illusion von Bewegung innerhalb des Bildes, die durch die leicht unregelmäßigen Abstände und Verrückungen der stereometrischen Formen zueinander erzeugt wird, überführt Thomas Rentmeister einige Schritte von diesen Bildobjekten entfernt in den Bereich der Skulptur und Bildhauerei. In seiner unbetitelten Bodenskulptur aus schwarzen Dreifachsteckdosen verwandelt sich scheinbare Bewegung oder, genauer gesagt: die kinetische Energie (Bewegungsenergie) des Bildes, in zwei weitere Formen von Energie. Zum einen in elektrische Spannung, also Strom, der tatsächlich durch die einzelnen Steckdosen fließt. Zum anderen in eine Art Masseenergie, die durch die große Ansammlung von Dreifachsteckern entsteht: eine gewaltige, schwarze Masse mit enormem Volumen, die sich wellenförmig über den Großteil der Bodenfläche des Ausstellungsraumes ausbreitet. Dabei verlagert und bewegt sich bei der Betrachtung dieser Arbeiten unsere Aufmerksamkeit aus dem geschlossenen Rahmen der Bildfläche in den offenen physikalischen Raum. Unsere Wahrnehmung, unsere Konzentration wandert von der Oberfläche des Auges zurück in das Innere unseres Körpers. Das ephemere Energiefeld des Bildraums und das flüchtige Flimmern vor unserer Netzhaut lösen sich auf. Stattdessen beginnen sich die in der Bodeninstallation erzeugten Spannungsfelder durch unser Auge, über unser Gehirn, durch unser Rückenmark hindurch und über unsere Nervenbahnen in unserem Körper auszubreiten.

Dieses besondere Spannungsmoment, das Thomas Rentmeister durch die Zusammenführung antagonistischer Ausdrucksformen erzeugt, dient ihm aber nicht dazu, die Op-Art oder eine andere Kunstrichtung zu rezensieren oder zu paraphrasieren. Thomas Rentmeister ist sich der Bedeutung der Avantgarde von gestern – insbesondere jener der 1960er und 1970er Jahre – für die künstlerische Praxis von heute nicht nur sehr bewusst. Aus seinen Werken spricht stets auch eine ganz offene und ehrliche Sympathie und Begeisterung für seine Vorläufer, was sich nicht zuletzt in seiner besonderen Vorliebe für klare Ausdrucksformen, einfache geometrische Strukturen, gleichförmige Wiederholungen und großflächige Akkumulationen zeigt. Zudem teilt er durchaus auch die damit verbundenen künstlerischen Ideale wie zum Beispiel die Aufhebung des Einmaligkeitsanspruchs, die Überschreitung der Gattungsgrenzen oder die Erweiterung des Kunst- und Realismusbegriffs. Auf der anderen Seite bringt er in seinen Werken zugleich auch offen und freimütig zum Ausdruck, welchen Attitüden und übertriebenen Erwartungshaltungen seiner Vorreiter er misstraut. Diese persönlichen Bedenken formuliert er aber niemals als pathetischen Schlachtruf, sondern stets als seinen persönlichen, mit einem Augenzwinkern versehenen, treffsicheren Kommentar.

In anschaulicher Weise belegt dies die unbetitelte Arbeit aus Edelstahlblech und Taschentuchpackungen. Anders als bei den Bildobjekten aus Schnarchpflastern werden hier deutlichere Bezugspunkte zur Minimal Art, insbesondere zu den galvanisierten Raumobjekten des Künstlers Donald Judd, sichtbar. Im Rückgriff auf dessen minimalistische Formsprache hat Thomas Rentmeister seine Arbeit auf eine möglichst klare Form reduziert, die als längliches Wandobjekt unsere Aufmerksamkeit auf den langgestreckten Ausstellungsraum lenkt. Die metallisch glänzende Oberfläche des Edelstahls und die einfache geometrische Form des Objekts schaffen eine kühle, asketisch-puristische Raumatmosphäre. Innerhalb der Gesamtinszenierung der Ausstellung bildet das Wandobjekt damit einen plastischen Gegenpol zur ausufernden Steckdoseninstallation und zum amorphen Hochglanzobjekt im angrenzenden Ausstellungsraum. Zugleich wird mit diesem Objekt eine dezidiert neue Wahrnehmungshaltung von Skulptur herausgefordert und das herkömmliche Verständnis von Plastik als ein in sich abgeschlossenes Ausdrucksgebilde ins Gegenteil verkehrt. Durch die einfache singuläre Hohlform in direkter Verbindung mit vielen kleineren Volumina wird das Werk ganz unvermittelt in eine neue, ganz direkte Beziehung zum Raum gesetzt und damit zugleich auch die Rezipientenrolle modifiziert. Der totalen Abstinenz des Subjektiven und dem autoritären Materialpurismus, wie vielfach von Vertretern der Minimal Art gefordert, scheint Thomas Rentmeister hierbei ganz offensichtlich zu misstrauen. Selbstbewusst formuliert er hier seine ganz individuelle Position, indem er die puristische Edelstahlform durch eine perfekt auf das Objekt abgestimmte lange Reihe serieller Primärformen – aneinandergelegte Tempotaschentuchpackungen – dynamisiert. An dieser Stelle wird ein ganz wesentliches Moment im künstlerischen Schaffen von Thomas Rentmeister erkennbar. Dieses ist nicht auf einen abgeschlossenen, singulären Werkbegriff mit Einmaligkeitsanspruch beschränkt, sondern korreliert mit einem offenen und stets erweiterbaren Kunstbegriff. Thomas Rentmeister bedient sich dabei Additions- bzw. Multiplikationsverfahren, die ihm unendlich viele Variationsformen eröffnen und die Möglichkeit erschließen, bereits Bestehendes durch Anreicherung, Kombination und Rekombination mit anderen, neuen Elementen zu modifizieren und dadurch in etwas ganz Neues und völlig Unerwartetes zu verwandeln. Damit verbindet sich, wie dies zum Beispiel an der Arbeit mit weißen und farbigen Buntstiften zu sehen ist, auch das Spiel mit Ähnlichkeitsmerkmalen und vielgestaltigen Anspielungen auf „Vorbilder“.

In das rohe Leinwandgewebe, das auf einen speziellen Keilrahmen gespannt ist und dadurch eine sehr hohe Oberflächen- und Gewebespannung erhält, hat der Künstler gewöhnliche Buntstifte gesteckt, wie wir sie womöglich noch aus unserer eigenen Schulzeit kennen. Die starke Spannung gewährleistet hierbei, dass die von Hand in unregelmäßigen Abständen und Neigungswinkeln in das Gewebe eingestochenen Stifte dauerhaft in ihrer Position verbleiben. Auch bei diesen beiden Bildobjekten spielt Rentmeister auf das Bewegungsmoment in der kinetischen Op-Art an. Aber auch eine nähere Beschäftigung mit dem Nouveau Réalisme wie auch mit dem Werk von Günther Uecker scheint unverkennbar.

Durch unzählige Nägel, zumeist auf eine weiße, monochrome Trägerplatte aufgenagelt, erzeugt Günther Uecker eine plastische, strukturierte, scheinbar bewegte Oberfläche, die dem Künstler schnell zum Markenzeichen wurde. Thomas Rentmeister geht bei seinen Wandobjekten allerdings deutlich verhaltener vor als sein damaliger Lehrer. Die Anzahl der Stifte ist wesentlich kleiner, wodurch im Gegensatz zu Uecker keine Bewegung der Oberflächenstruktur entsteht. Es bleibt immer erkennbar, wo der Stift in der Leinwand steckt. Das Moment der optischen Täuschung, der Fiktion von Bewegung wird so ganz bewusst vermieden. Dafür bilden, anders als bei den Nagelbildern von Uecker, Leinwand und Buntstifte nun eine gleichwertige Wahrnehmungsebene. Die Leinwand dient dem Stift nicht nur als Unter- oder Malgrund, der sukzessive verschwindet und unsichtbar wird. Thomas Rentmeister erweitert den künstlerischen Nutzen der Leinwand. Sie fungiert nun nicht mehr nur als Trägermaterial. Zwar verweist diese in ihrer Form und spezifischen Materialität nach wie vor auf ihre eigentliche Funktion und herkömmliche Bedeutung als Malgrund. Zugleich erfährt sie aber eine Transformation, die mit einem paradoxalen Eingriff verbunden ist. In einem scheinbar naiven, kindlichen Akt hat der Künstler (Kinder-)Buntstifte in die unversehrte Oberfläche der Leinwand gestochen. Die aufgespannte Leinwand als Inbegriff der Malerei wird spielerisch erkundet und zugleich doch provokativ zerstört. Erst dadurch tritt sie als das, was sie ist, in Erscheinung. Bei Lucio Fontana legt der Schnitt mit dem Messer in die bemalte Leinwand die Malerei offen. Thomas Rentmeister hingegen weist mit seiner Arbeit auf den „Grund“ der Malerei. Es wird hier also ein völlig unvermittelter Bruch zu unseren gewohnten, normalen Vorstellungen vom Umgang mit einer Leinwand erzeugt.

Aus diesem Blickwinkel betrachtet, könnte man viele Werke von Thomas Rentmeister auch mit Versuchsanordnungen vergleichen, die uns auf vielgestaltige Weise die einfache Verführbarkeit des Auges demonstrieren. Dabei wechselt unsere Wahrnehmung vor diesen Arbeiten unablässig zwischen einer „strukturindifferenten Funktionserfassung“ (Gegenstand per se) und einer „funktionsindifferenten Strukturerfassung“ (Struktur und Form an sich) hin und her. Die dabei offen ins Werk gesetzten Antagonismen, wie zum Beispiel zwischen kunstinternen und kunstexternen „Sinnschichten“, dürfen jedoch nicht als selbstgefällige Monologe, als ein Spiel mit und Kreisen um sich selbst missverstanden werden. Die Spannung, die zwischen zwei entgegengesetzten Polen erzeugt wird, muss als immanente Kraft einer Bewegung aus der Kunst heraus verstanden werden. Erst dadurch wird eine neue Sichtweise auf die Dinge ermöglicht, ist eine neue Interpretation erlaubt und kann ein neuer Sinn zum Vorschein gelangen. Eben darin besteht das große Verdienst der Kunst von Thomas Rentmeister, dass er durch sein ganz individuelles künstlerisches Schaffen unsere eigene, einseitig geprägte Beziehung zu den Dingen und unsere zweckrationale Sicht auf die Dinge zu hinterfragen, zu erweitern und im besten Fall zu verändern weiß.

© Marcus Körber

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