Ludwig Seyfarth: Das Blubbern der Galatea
Katalogtext zur Ausstellung „Hanspeter Hofmann / Thomas Rentmeister“, Villa Merkel, Esslingen, 20.05. – 17.06.2001; in: Unsichtbare Sammlungen. Kunst nach der Postmoderne, Fundus-Buch 170 (Philo Fine Arts), Hamburg 2008, S. 199–202; in: Hanspeter Hofmann / Thomas Rentmeister, (Kat.) Villa Merkel, Esslingen 2001, S. 46–54, engl. S. 54–61.
Giorgio Vasari, der große Künstlerbiograph der Renaissance, war ein großer Verehrer des Bildhauers Donatello. Vasari rühmte überschwenglich, dass Donatello dem Marmor „Leben, Gefühl, Bewegung“ eingegeben habe. Originell ist dieses Lob allerdings kaum. Es wärmt die berühmteste Geschichte auf, die über Bildhauerei je erzählt wurde. Pygmalion soll den Körper der Galatea so lebensecht aus Elfenbein geschaffen haben, dass Venus sich bewogen fühlte, die Statue zum Leben zu erwecken, damit sie Pygmalions Geliebte werden konnte. Dieser Gründungsmythos der Skulpturgeschichte ist ebenso faszinierend wie einseitig. Der Pygmalion-Sage – und vielleicht auch Vasari – zufolge wäre Donatellos Marmor mittlerweile weit übertroffen worden: von den Wachsfiguren Madame Tussauds oder schließlich von perfekt menschenähnlichen Cyborgs wie in „Blade Runner“ oder „Terminator 2“. Die Genom-Forscher von heute schickten sich an, zu den größten Bildhauern aller Zeiten zu werden. Ihre geklonten Menschen wären aus völlig lebensechten Material und Pygmalions Galatea kein Mythos mehr, sondern Realität.
Es hat seine Gründe, dass die Kunstgeschichte der Skulptur so nicht geschrieben wird. Zu großer Illusionismus hat der plastischen Kunst, stärker noch als beim zweidimensionalen Gemälde, neben Bewunderung stets auch Misskredit eingebracht. Da das Hauptthema der Plastik traditionell die menschliche Figur war, weckte ein zu großer Drang nach scheinbarer Lebendigkeit immer schon das Verdikt, das auch den heutigen Klon-Wissenschaftlern entgegengehalten wird: sich an der göttlichen Schöpfung vergreifen zu wollen. Ist nicht den meisten Menschen doch wohler, wenn bei Michelangelo oder Rodin die geformte Figur als dramatisches Ringen mit der umgeformten Materie erscheint? Die Oberfläche des Marmors, selbst wenn sie glattpoliert die Weichheit der Haut suggeriert, eben doch aus Stein. Deshalb wirken Marmorakte auch nicht obszön, denn sie sind eigentlich angezogen. Ihre Nacktheit ist dadurch bedeckt, dass sie ein „Marmorkleid“ tragen. Das Problem besteht eher umgekehrt in der Darstellung von Kleidung, die häufig, vor allem bei zu großen Bemühungen ums Detail, übertrieben wirkt und den Gesamteindruck beeinträchtigt. Bei der modernen Skulptur löst sich die enge Bindung an die menschliche Figur. Sie verzichtet zunehmend auch, von Ausnahmefällen abgesehen, auf die Imitation der Haut und anderer Stoffe. Die Materie wird zum Material, das nicht anderes Material oder gar lebende Materie vortäuschen, sondern seinen eigenen Charakter zum Ausdruck bringen soll. Damit wurden auch völlig andere Stoffe als Marmor, Bronze oder Holz ästhetisch hoffähig. Die höchste Konjunktur hatte das Material in den sechziger und siebziger Jahren, als reihenweise Substanzen künstlerisch in Gebrauch kamen, denen jede Galerie vorher die Tür gewiesen hätte. Beuys brachte Fett und Filz, Dieter Roth Schokolade oder die amerikanischen Minimal-Bildhauer industriell gefertigte Metall- und Eisenplatten zu Ehren. Ob das Eisen nun fabrikneu und glatt oder rostig und gebraucht wie bei Richard Serra aussah, in jedem Fall wurde das Material zum Appell an die Sensibilität der Betrachterwahrnehmung. Doch wo ist Galatea geblieben? Bei den Marmor- oder Bronzegebilden von Hans Arp oder Henry Moore waren die Konturen einer imaginären Geliebten mit viel gutem Willen immer noch auszumachen. Doch nun ist der einzige Körper, an dem sich Bildhauer oder Betrachter ergötzen sollen, der eigene, der sich der Erfahrung von Raum und Material hingibt. Für solchen Autorerotismus scheint eher Narziss als Pygmalion die Leitfigur zu sein.
Auch Thomas Rentmeister lädt die Betrachter zur narzisstischen Selbstbespiegelung ein. Seine Polyesterskulpturen haben äußerst glänzende Oberflächen, mit denen er die minimalistische Selbstbezüglichkeit zu parodieren scheint. „Minimal-Skulpturen aufblasen und ad absurdum führen“, nannte er das selbst in einem Interview im Kunstforum (141). Rentmeister führt die narzisstische Schleife wieder zu Pygmalion zurück. Die perfekte Oberfläche seiner Skulpturen entspricht der äußeren Glätte heutiger avancierter Industrieprodukte. Dass Pygmalions erotische Wunschträume hier immer noch wach sind, beweist die gängige Kombination der Produkte mit der glatten Haut perfekt gestylter Models. Als heutiger Bildhauer kann Thomas Rentmeister auf die zwei Geschichten der Skulptur zurückblicken, ohne sie weiter erzählen oder gegeneinander ausspielen zu müssen. Er schafft weder die Illusion eines Gegenstandes oder eines Lebewesens, noch versucht er Assoziationen an Gegenstände zu unterdrücken. Seine Skulpturen sind angemessene Objekte in einer Zeit, da man selbst jede mögliche Gestalt annehmen kann, sofern man sich darauf einlässt, als Avatar in einem Cyberspace herumzulaufen. Man kann sich jede beliebige „Haut“ überstreifen, die dann allerdings natürlicherweise keinen Körper verdeckt, sondern das Konstruktionsgitter, aus dem digitale 3D-Objekte gebildet werden. Dass dieses mathematische Modell an ein Drahtgestell erinnert, belegt seine Herkunft aus analogen Formprozessen. Nur ist es leichter formbar als jeder noch so dünne Draht und hält jede Belastung aus, die den Materialeigenschaften entspricht, die ihm einprogrammiert wurden. Auch wenn seine Formfindung viel mit heutigem digitalem 3D-Design zu tun hat, begnügt sich Rentmeister nicht mit Prozessen, die nur am Computerbildschirm oder in einer VR-Umgebung erlebbar sind. Er stellt ein Objekt konkret in den materiellen Raum und treibt damit eine Unterscheidung hervor, die im digitalen Raum immer noch unterbelichtet bleibt: die Differenz zwischen hart und weich. Während der gehärtete Polyester, nicht zuletzt durch die sich beim Entlanggehen wechselnden Spiegelungen, Eigenschaften einer weich fließenden oder blubberig flüssigen Oberfläche suggeriert, erscheint ein weiches Material wie Nuss-Nougat-Creme als ziemlich feste Materie, der man wie geronnener Lava ihre frühere Konsistenz nur noch als Verlaufsspur ansieht.
Thomas Rentmeisters Umgang mit verschiedenen Stoffen ist also keineswegs „materialgerecht“, wie es das puristische Ethos der Moderne forderte. Wie aber soll man Polyester „gerecht“ werden? Polyester gehört zu den Kunststoffen, die im Zuge der Industrialisierung mehr und mehr zum Einsatz kamen, und zwar nie mit dem Ziel, einen eigenen Charakter zu offenbaren. Kunststoffe sollten in der Massenproduktion teurere und schwerer bearbeitbare Materialien imitieren. Auch Marmor, Bronze oder Holz werden längst aus Kunststoffen nachgeahmt, so wie von jeher Wachs als Imitat für menschliche Haut dient. Zur Idee der Materialgerechtigkeit gehört auch das Beibehalten der Materialfarbe. In seiner Ausstellung „braun“ im Frühjahr 2001 im Kölnischen Kunstverein wählte Rentmeister eine Farbe zum Motto, die oft mehr als „Ton“ denn als reine Farbe auftaucht und eine häufige Materialfarbe ist. Das Spektrum reicht von Holz bis Nuss-Nougat-Creme. Knallbunte, poppige Farben verwendet Rentmeister selten, um die reflektierenden Wirkungen auf der Oberfläche nicht zu beeinträchtigen (siehe Interview im Kunstforum 141).
Vasari hätte keinen Grund, sein Lob Donatellos heute nicht an Thomas Rentmeister weiterzureichen, auch wenn es, bei ebenso langwieriger Arbeit, nicht mehr der Marmor ist, dem „Leben, Gefühl, Bewegung“ eingehaucht wird. Auch ist es keine Galatea, die Rentmeisters Kunst zum Leben erweckt. Die weder völlig abstrakten noch konkret gegenständlichen Formen könnte man in der surrealistischen Tradition als polymorph bezeichnen, und da sie durchaus erotische Qualitäten besitzen, auch als polymorph pervers. Obwohl die gewählte Form niemals zufällig wirkt, erscheint sie wie ein Zustand in einem fluktuierenden Geschehen, das ein digitaler Morphing-Prozess sein könnte. Viele der Skulpturen könnten einen Zwischenzustand zwischen zwei verschiedenen Gegenständen oder Figuren darstellen. Sie als Nachahmungen computergenerierter Objekte aufzufassen, würde jedoch bedeuten, dass eine Bronze- oder Marmorskulptur ihre gezeichnete Skizze oder das Tonmodell imitieren würde. So kann man sinnvoll nicht sprechen. Da wir nicht wissen, was Rentmeisters Skulpturen darstellen oder nachahmen, wissen wir eben auch nicht, was sie sind. Sie sind keine Galateas und sie meinen auch nicht nur sich selbst. Der Drang nach Eindeutigkeit ist anderswo ohnehin besser aufgehoben als in der Kunst.
© Ludwig Seyfarth