Helmut Bauer: Westfalenliga und die Unbespielbarkeit des Platzes (zu Thomas Rentmeisters Stilleben)
Textbeitrag für die Broschüre zur Ausstellung im Ballhaus im Nordpark, Düsseldorf, 01.04. – 30.04.1989; in: (Broschüre) Ballhaus im Nordpark, Düsseldorf 1989.
„Nichts ist unbestimmter als die Eindrücke, mit denen sich individuelle Identität verbindet. Jedermann erkennt seinen Nachbarn wieder, doch trifft es nicht selten, dass einer dann imstande ist, einen Grund für dieses Wiedererkennen anzugeben.“ (Edgar Allan Poe)
Regionalität: Mit 18 / 20 von zuhause weg. Gefragt wo man herkommt. In der wiederholten Beantwortung formieren sich heimatkundliche Empfindsamkeiten. Die bundesdeutsche Föderalität erfährt weitere Verkleinstaatlichung und das sentimentale Potential des jungen Bundesbürgers, das durch keine nationale Identität, durch kein Vaterland und durch keine Heimat in Anspruch genommen ist, weiß schließlich, wo anknüpfen: bei einer regionalen Herkunft, die in ihrer geographischen Dimension durch die curricularen Grenzziehungen des Heimatkundeunterrichts der Volksschulen bestimmt wird. Nach Jahren erbitterter Distanzierung, verzweifelten Beteuerns, man fahre doch allenfalls alle drei / vier Monate nach Hause, in die Provinz und dem von Jahr zu Jahr beschämenderen Eingeständnis, dass die Weihnacht wieder bei den Eltern verbracht wird, greift schließlich ein auch freundliches, Anekdoten erzählendes Erinnern Platz. Bei aller gerechten Empörung über Absonderlichkeiten der allzu gut bekannten regionalen Mentalität, über katholischen Kleingeist oder protestantische Betriebsamkeit, der Blick zurück vergnügt sich schließlich doch am Kolorit, besinnt sich gern auf das, was nach zwischenzeitlicher Befremdung als uneinholbar vertraut zurückkehrt.
Diese Regionalität begegnet in der „jungen deutschen Kunst“ vielleicht nicht zum ersten Mal, aber jedenfalls unübersehbar. 1985 bei Martin Kippenbergers Skulpturenserie „Entwurf Verwaltungsgebäude für Müttergenesungswerk in Paderborn“ (Entwürfe für Heilbronn und Gütersloh und „Bahnhof Essen-Frillendorf“ sind auch vertreten. Für die neuere Zeit, nimmt man etwa das Münster’sche Skulpturenprojekt 1987, lässt sich verweisen auf Katharina Fritschs „Gelbe Madonna“, auf Rainer Ruthenbecks „Lodenfahne“, auf Remy Zauggs Wiederaufstellung von Bernewitzs „Knecht mit Pferd“ und „Magd mit Stier“. Natürlich hat Jeff Koons mit seinem Kiepenkerl in Edelstahl das Phänomen zutreffend bezeichnet.
Deutsche Kunst ist westfälisch.
Und titelt der jüngste Auftritt amerikanischer Kunst in Europa im Amsterdamer Stedlijk „Horn of Plenty“, dann dürfte die deutsche Antwort nicht in wörtlicher Übersetzung „Füllhorn“, sondern müsste „Fresskorb“ heißen. Den letzten hat mein Vater, Landarzt am Teutohang, wegen seiner 25-jährigen Betreuung des Riesenbecker Versehrtensportvereins bekommen. Luxus in der Preislage um EDEKAs „Fürst von Metternich“ und REALs Asbach.
Die Botanisiertrommel
Die ästhetische Position, die hier mit dem Begriff der Regionalität gekennzeichnet sein soll, ist für Th.R.s Arbeit maßgeblich. Vergnügen am Kolorit, die Besinnung auf Vertrautes, sind ihre Essentialia und es ist eine Position, die vor allem rezipiert, Rezeption für ihre Ästhetik mobil macht. Die ihr eigene Weise der Bezugnahme auf Realität tendiert zum Referentiellen der Probe.
§ 494 BGB (Kauf nach Probe) Bei einem Kauf nach Probe oder nach Muster sind die Eigenschaften der Probe oder des Musters als zugesichert anzusehen.
Thomas Putzo kommentiert in der 46. Auflage des Palandt (Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch § 494 Anm. 1) a)):
„Zweck: Die Beschreibg von Eigensch der Kaufsache, die zugesichert w sollen, ist oft schwer. Daher ist es einfacher u zweckmäß, diese Beschreibg dch eine Probe (Muster) zu ersetzen.“
Der Tisch ist als Probe nicht mehr Tisch, sondern die Bezeichnung des Tisches. Er stellt die Wesensmerkmale des Tisches dar. Diese Funktion ist an die Stelle eines möglichen Gebrauchs getreten. Die Referenz auf die Realität nimmt im Extrem, und auch – so scheint’s – bei Th.R.s „Stilleben“, den künstlerischen Eingriff bis auf das Ready-made zurück. Dem Gegenstand wird wie der Probe durch den bloßen Transport in die Ausstellungsräume aufgegeben, sich selbst und seine „Heimat“ zu bezeichnen.
Von der Liebsten eine Locke – tote Natur – Nature Morte – fr. für Stillleben. Die Locke hat/war tot, so wie sie im Pergamenttütchen liegt, teil/Teil der Liebsten. Das Referentielle der Probe, der G/geliebten Locke – hier: Darstellung pars pro toto. Die Probe, die Reliquie überlässt es der Imagination, die Geliebte zu „schauen“. Der Gegenstand, auf den die Probe verweist, wird in seiner materialen Realität evoziert. Nur nicht halluziniert? dann wäre die süße Sehnsucht, wäre die Abwesenheit der Liebsten, die Differenz und mit ihr die Repräsentation dahin.
„Aber der so einfache Akt, den wir nennen ‚eine Person sehen, die wir kennen‘, ist zu einem Teil ein intellektueller Akt. Die physische Erscheinung des Wesens, das wir sehen, staffieren wir mit all den Begriffen aus, die wir von ihm haben, und an dem Gesamteindruck, den wir uns vorstellen, haben diese Begriffe gewiss den größten Anteil. Ja es gelingt ihnen schließlich so vollkommen die Wangen auszufüllen, in einem gleichsam Verwachsensein so exakt der Linie der Nase zu folgen, sie mengen sich in die Stimme, ihrem Klang Nuance zu geben, als sei diese selbst nur eine durchscheinende Umhüllung so sehr, dass jedes Mal, wenn wir dieses Gesicht sehen, wenn wir diese Stimme hören, es eben diese Begriffe sind, die wir wiederfinden, die wir hören.“ (Marcel Proust)
Das Erleben von Th.R.s Stillleben ist zwischen dem Wiedererkennen des Nachbarn und dem Schauen der Geliebten angesiedelt.
„Wir pflegen zu sagen, dass der Verfertiger der beiden genannten Gegenstände im Hinblick auf das Urbild schafft, der eine die Betten, der andere die Tische, die wir gebrauchen, und das übrige ebenso; denn das Urbild selbst verfertigt doch keiner dieser Handwerker.“ (Platon)
Gilbert und George auf die Frage warum sie immer Anzüge und Krawatten tragen: Weil Kinder Männer immer mit Anzug und Krawatte malen.
Das Wiedererkennen knüpft an eine begriffliche Reduktion auf das Urbild hin. Im Moment des Wiedererkennens wird man dessen nicht gewahr. Doch bei unserm Handwerker funktioniert nichts. Nie werden die Champagnerflaschen im Becken schwimmen und: wagt es jemand das Wasser zu bewegen?
„Nachdem der anästhesierende Einfluss der Gewohnheit aufgehört hatte, begann ich zu denken, zu fühlen, beides traurige Dinge.“ (Marcel Proust)
Und weil nichts funktioniert, ist es dem gewohnten, betäubten Wiedererkennen entfremdet. Kunst als eine Schmetterlingsjagd, deren Arbeit vor allem darin besteht, den Kasten, den Rahmen zu bauen, in dem die Trophäen des Alltags präsentiert werden.
Wieder hat ein Amerikaner (Kanadier in New York lebend) das Phänomen bezeichnet. Christian Eckarts wandhängende Plastiken aus schweren Rahmenleisten ziehen sich ausdrücklich vom Feld der herkömmlichen Repräsentation zurück. Kunst ist – bei Eckart allzu wörtlich – Arbeit am Rahmen. Die viel zu sehr beschworene Agonie des Abbilds – ausgestanden. Das Viereck der Leinwand: die Unbespielbarkeit des Platzes.
Aber das „Stillleben“ lässt sich für ein Unternehmen „Ready-made“ schließlich doch nicht uneingeschränkt vereinnahmen. Champagnerflaschen und Schwimmbecken sind eingetragen in ein Arrangement. Die Differenz zu ihrem „Alltag“ ist nicht eine bloße Differenz des Spielorts.
Natürlich erzählt das Stillleben auch davon, dass die Dinge schon immer an einem anderen Platz situiert waren, als unser Wissen von ihnen, dass dieser Platz schon lang verregnet ist. Aber wenn nun die Dinge mobil gemacht sind, wenn sie sich in Ausstellungsräume und Museen begeben, an einen Platz, von dem man sicher annehmen konnte, da ist das Wissen, dann heißt das noch lange nicht, dass Werner Büttners Nationalelf umsonst angetreten ist. Die Unbespielbarkeit des Platzes braucht nicht auch hier zu drohen, die Kunst braucht nicht auf die diplomatische Vertretung der Kolonialpolitik der Dinge beschränkt zu sein.
Prousts Recherche, seine Wiedersuche beginnt mit dem ersten Kapitel, „Cambray“, auf dem Lande, im Hause der Großeltern. Ein heimatkundliches Forschungsunternehmen, das wie das Wiedererkennen nicht imstande ist, „einen Grund ... anzugeben“, das seine Bahnwärtergeschichten erzählt, ohne die Erinnerung in eine abschließende Ordnung des Berichtens zu überführen. Das Vergangene wird auch hier evoziert – geknüpft an eine Sinnessensation, ans Materiale und nicht nur an die Konsistenz der schmelzenden Madeleine.
Th.R.s Stillleben konfrontiert ein Schwimmbecken, das dem versicherten Kontext eines Quelle-Kataloges und jugendlichen Gartenvergnügungen entwendet ist, mit dem Element Wasser, konfrontiert das giftig-quietschende Plastikgrün der nicht allzu überdimensionierten Champagnerflaschen mit dem Element Luft. Aus dieser Konfrontation bezieht das Stillleben eine materiale Präsenz, die den Rückzug in die Ordnung einer Lektüre verstellt.
Der Luxus, von dem hier die Rede ist, entstammt nicht dem restlos codierten Überfluss des Füllhorns, sondern dem Fresskorb meines Vaters.
Schließlich:
„Weh jedem, der vermessen und verblendet die Schönheit nieder zu den Sinnen reißt!“ (Michelangelo)
„Und dann war der Pinselstrich getan und der Farbtupfen angebracht; und einen Augenblick stand der Maler versunken vor seinem Werk, das er geschaffen; im nächsten aber, während er noch starrte, befiel ein Zittern ihn, und große Blässe, Entsetzen packt’ ihn, und mit lauter Stimme rief er ‚Wahrlich, das ist das Leben selbst!‘ und warf sich jählich herum, die Geliebte zu schaun: – Sie war tot!“ (Edgar Allan Poe)
Das Unternehmen der Repräsentation, wenn in dieser Weise auf die Spitze getrieben, endet, jedenfalls in der Literatur, immer tödlich. Frenhofer in Balzacs „Le chef-d’ouvre inconnu“, Berthold in Hoffmann’s „Jesuiterkirchs in G.“ beide begehen schließlich Suizid. In Poes „Das ovale Portrait“ wird vom Verbleib des Malers nicht berichtet. Aber im Ausruf „Wahrlich, das ist das Leben selbst!“ versteht der Maler, dass nicht nur der Geliebten, sondern auch der Repräsentation, der Malerei der Garaus gemacht ist. Das Bild stellt nicht mehr dar, es ist – das Leben. Er hätte sich mit der Geliebten Locke begnügen sollen.
Aber warum „Das ovale Portrait“? Warum im Titel ein Adjektiv, das alles andere als das Wesentliche und das Entsetzliche dieses Portraits bezeichnet? Warum teilt Poe mit: „Der Rahmen war oval, war reich vergüldet und von moreskem Filigran.“?
Weil das Portrait Oval ist. Ein Seinsstatus, der am Rande des Tumults einer wie auch immer gearteten Repräsentation in aller Stille die Form als Inhalt in das Kunstwerk einführt.
– Stillleben –
In Champagnerflaschen stehen zwei grüne Luftsäulen, in einem Schwimmbecken eine blaue Wassersäule.
© Helmut Bauer