Hannelore Kersting: Vision und Wirklichkeit
Katalogtext zur Ausstellung „Thomas Rentmeister“, Städtisches Museum Abteiberg, Mönchengladbach, 12.02. – 07.05.1995; in: Thomas Rentmeister, (Kat.) Städtisches Museum Abteiberg, Mönchengladbach 1995.
Etwas „schräg“ sind die Skulpturen von Thomas Rentmeister in mancherlei Hinsicht – dabei aber so großzügig und unprätentiös, dass es schwer fällt, den Ursachen der suggestiven Wirkung auf den Grund zu gehen, die diesen zwiespältigen Werken aller sympathischen Schlichtheit zum Trotz zu eigen ist. Dünnwandige Hohlkörper, nach Gipsmodellen in Polyester gegossen und auf Hochglanz poliert, zeigen geschlossene Formen mit sanften Rundungen von unaufdringlicher Sinnlichkeit. Mit ihrer offenen Seite scheinen sie sich am Boden festzusaugen, so eindringlich betonen Ausbuchtungen an den Unterseiten die Bodenhaftung der Werke. Dem Betrachter bleiben Einblicke in das Innere verwehrt. Darüber vermag auch der Eindruck vermeintlicher Transparenz nicht hinwegzutäuschen, der durch die Spiegelungen auf der glatten Oberfläche entsteht. Diese Lichtreflexe sind alles andere als unfreiwillige Nebeneffekte; sie sind wesentlicher Bestandteil der Skulptur, deren verletzliche Schale aufs sorgfältigste präpariert wird, damit diese als Projektionsfläche von Spiegelungen zu fungieren vermag.
In der jüngeren Kunsttheorie, die überwiegend mit gattungsübergreifenden Kunstformen zu tun hat, werden die Begriffe „Skulptur“ und „Plastik“ weitgehend synonym verwendet. Die klassische Unterscheidung dagegen verstand „Plastik“ als Bezeichnung für das Modellieren weicher Materialien (Ton, Wachs z.B.) und „Skulptur“ als Bildhauerkunst im engeren Sinne, die das Herausarbeiten von Formen aus harten Blöcken (Stein, Holz z.B.) durch Entfernen von Material beinhaltet. Thomas Rentmeister favorisiert trotz des Modellierens in Gips und des Spritzgusses aus zunächst flüssigem Kunststoff die Bezeichnung „Skulptur“ für seine Werke. Zum einen assoziiert der Klang des Wortes „Skulptur“ lautmalerisch das glucksende Geräusch flüssiger Materialien und das Umstülpen erstarrter Massen. Zum anderen stellt Thomas Rentmeister damit die Bedeutung der Endphase des Entstehungsprozesses heraus, die aus einem „abbauenden“ Verfahren besteht, indem von dem zunächst völlig stumpfen Polyester Schicht um Schicht abgetragen wird, bis sich durch das Schleifen und Polieren die Poren schließlich soweit verdichten, dass die spiegelglatte Oberfläche entsteht.
Es sind surreal anmutende Zerrbilder der Wirklichkeit, die der Betrachter schließlich sieht; verkleinert und perspektivisch verfremdet durch die konvexen Wölbungen der Skulpturen und wie durch den Farbfilter getönter Gläser in ein toniges Schattenreich verwandelt. Die Lichtreflexe sind ebenso anziehend wie irreführend: sie beeinflussen die Erscheinungsweise der Skulptur und lenken dabei ab von deren eigentlichen Beschaffenheiten, wie auch ein Vergleich mit den „nackten“, vollkommen matten Gipsmodellen verdeutlicht. Während diese eine ungestörte Wahrnehmung der groß angelegten Form erlauben, ist es bei den vollendeten Werken so gut wie unmöglich, von den lebhaften Glanzlichtern abzusehen und sich auf die Gesamterscheinung der Gestalt zu konzentrieren. Um einer allzu gründlichen Vereinnahmung zu entgehen, erzeugt die Skulptur eine Flut von Bildern und Reflexen, die den Betrachter auf sich selbst und den gemeinsamen Umraum zurückwerfen. Der schöne Schein der Spiegelungen schafft eine Art ästhetische Grenze zwischen Werk und Betrachter, so dass die Reflexion der Wirklichkeit zu einem relativierenden Mittel wird. Einerseits hilft sie Distanz zu wahren, indem sie einen immateriellen Schutzschild um das Objekt legt. Andererseits leitet sie mit Hilfe der Spiegelungen über in den andersartigen Realitätsbereich einer innerbildlichen Wirklichkeit, die sich allerdings als äußerst flüchtig erweist und sich jedem Zugriff entzieht, da sie ständig im Wandel begriffen ist.
Die Unbeständigkeit der Spiegelbilder korrespondiert mit dem prozesshaften Charakter der bewegten Skulpturen, den Thomas Rentmeister durch die „Schräglage“ seiner Werke erzeugt. Die gelegentlich bedrohte aber stets gewahrte Bodenständigkeit wird dabei zu einem Gradmesser für die Verlagerung von Schwerpunkten und die Verschiebung von Achsen. Die Skulpturen befinden sich in dem momentanen Zustand eines innegehaltenen Prozesses der (Ver-)Formung, dem die Möglichkeit zur Veränderung potentiell innewohnt. Die prall geblähten Hohlkörper mit ihrer straff gespannten Haut werden dabei zu Behältnissen aufgestauter Energie. Die assoziationsträchtigen biomorphen Formen, die eher unvermittelt im Weg liegen als dass sie ausdrücklich präsentiert werden, legen sichtbares Zeugnis ab von unsichtbaren Vorgängen unbekannter Ursache. Sie entwickeln eine Art von Eigenleben, denn bei aller Kontrolliertheit entbehren sie einer rationalen Erklärung für ihre „deformierte“ Erscheinungsweise. Zwar erfolgt ihre Formgebung nach empirischen Gesichtspunkten; dieser Subjektivität steht jedoch die Perfektion der höchst disziplinierten Bearbeitung entgegen, hinter deren Neutralität die persönliche Handschrift des Künstlers weitgehend zurücktritt. Es sind nicht zuletzt diese ungewissen, im wahrsten Sinne des Wortes „unberechenbaren“ Kräfte, die den Werken ihren mysteriösen Charakter verleihen.
Wie sehr die Asymmetrie das Wesen der Skulpturen zu verändern vermag, zeigt ein Blick auf eines der ersten Werke, das Thomas Rentmeister in Polyester ausführte. Bei der 2-teiligen Skulptur von 1991 sind sowohl das liegende Bodenstück als auch die stehende Parabel auf ihre Mittelachsen ausgerichtet. Sie sind statisch und zeitlos in sich ruhend. Die jüngeren Werke dagegen treten aus ihrer sicheren aber unflexiblen Selbstbezogenheit heraus. Die dynamische Gestaltung bringt räumliche und zeitliche Komponenten ein, so dass die neu gewonnene Bewegungsfreiheit einhergeht mit einer zunehmenden Abhängigkeit von äußeren Verhältnissen. Die Position des Betrachters bestimmt die Lesart der Skulptur. Sie kann sich auf ihn zu bewegen oder vor ihm zurückweichen, sie kann sich annähern oder distanzieren, und in dem Maße, in dem sich der Ausdruck ihrer Erscheinungsweise ändert, definiert sie die Bewegung des Betrachters als bedeutungsstiftende Komponente. Zwischen Eindeutigkeit und Vieldeutigkeit, zwischen Autonomie und wechselseitigem Einfluss liegen nur wenige (Neigungs-)Grade. Auch die Spiegelungen mit ihren differenzierten Hell-Dunkel-Strukturen reagieren mit immer neuen Bildern sensibel und prompt auf jede Veränderung der Situation. Diese Zerrbilder des Umraumes sind ebenso „aus dem Lot geraten“, wie die Skulpturen selbst. Die Verfremdung der „Ready-made“-Perspektive des realen Raumes erzeugt die Illusion einer bizarren innerbildlichen Räumlichkeit. Stürzende Linien, gekrümmte Achsen – die organisch anmutenden Formen der Skulpturen bringen selbst das rationale Ordnungsgefüge aus Horizontalen, Vertikalen und rechten Winkeln ins Wanken. Die Orientierung wird spielerisch in Frage gestellt. Die undurchdringliche Oberfläche der Skulptur erlaubt nach wie vor keinen Einblick in das Innere des Objektes. Die Spiegelungen gehen jedoch insofern über die Grenzen der tatsächlichen Gegebenheiten hinaus als sie die geschlossenen Körper optisch aufbrechen, die den Raum geradezu in sich aufsaugen, der sie umgibt. Wie ein Blick in eine magische Kugel gewähren die Spiegelbilder flüchtigen Einblick in das Selbstverständnis und das Anliegen des Werkes. So wie die Skulptur den äußeren Bedingungen des Raumes unterworfen ist, unterliegt das abgewandelte Bild des Raumes den Bedingungen der Skulptur. Das Kunstwerk erlaubt andeutungsweise eine andere Sicht der gewohnten Gegebenheiten der Wirklichkeit, ohne dabei je die begrenzten Möglichkeiten des Kunstwerkes aus den Augen zu verlieren. Die visionären Bilder von einer zumindest ideellen Überwindung starrer Systeme geben sich als Illusion zu erkennen, die allerdings in ihrer Eigenschaft als Reflexion der Wirklichkeit durchaus real ist.
© Hannelore Kersting